23. April 2017

Umstrittene Freiwilligen-Kurzeinsätze im Ausland

Volunteering (Freiwilligenarbeit) plus Tourismus führt zum neulateinischen Ausdruck «Voluntourism». Gemeint sind mehrwöchige Einsätze von jungen Erwachsenen in Entwicklungsländern. Auf den ersten Blick eine sinnvolle Sache. Bei näherer Betrachtung stellen sich kritische Fragen.

Volunteering (Freiwilligenarbeit) plus Tourismus führt zum neulateinischen Ausdruck «Voluntourism». Gemeint sind mehrwöchige Einsätze von jungen Erwachsenen in Entwicklungsländern. Auf den ersten Blick eine sinnvolle Sache. Bei näherer Betrachtung stellen sich kritische Fragen.
Nachdem junge Erwachsene ein Dutzend Jahre auf der Schulbank verbracht haben, zieht es viele von ihnen zwischen Matura, Zivil- oder Militärdienst und Studienbeginn für Wochen oder Monate in die weite Welt hinaus. Und weil sie nicht nur reisen und feiern, sondern auch mal in einer einheimischen Gastfamilie wohnen und lokale Freunde finden wollen, machen immer mehr Vertreter der Generation Y mehrwöchige Freiwilligeneinsätze in Entwicklungsländern. Dort wirken sie in Waisenhäusern und Flüchtlingslagern, auf Bauernhöfen oder mit Strassenkindern. Solche Einsätze wirken auf den ersten Blick für alle Beteiligten nützlich und sinnvoll.

Grosse Bandbreite an Einsatzmöglichkeiten
Die Kulturaustausch-Organisation AFS bietet weltweit Freiwilligeneinsätze ab einer Woche an. Service Civil International (SCI) vermittelt derzeit online 370 zweiwöchige Freiwilligeneinsätze in 90 Ländern, u.a. ein Bauprojekt in Südafrika, Umweltsensibilisierung in Island, Eulen-Haus-Bau in Taiwan, Lager mit Kindern in Thailand, Sprachunterricht für arme Studenten in Vietnam sowie Baumpflanzen in Tansania. Auch STA Travel bietet in allen Kontinenten eine Vielzahl von Kinder- und Umweltprojekten an. Globetrotter organisiert seine Freiwilligeneinsätze teilweise zusammen mit dem Hilfswerk Helvetas. Die Einsätze gehen vom Bio-Baumwolle-Pflücken in Kirgistan und Bio-Kaffee-Ernten in Nepal über den Reiseanbau in Indien bis zum Elefantencamp in Thailand. Freiwilligeneinsätze von Nouvelle Planète umfassen das Einrichten von Gemeinschaftsgärten in Kamerun ebenso wie den Schulzimmerbau in Vietnam.

Werben mit «Nachhaltigkeit»
STA Travel verspricht auf seiner Webseite: «Egal, ob du dich in einem Kinderhilfeprojekt in Afrika, für den Tierschutz in Asien, den Umweltschutz in Ozeanien oder in einem gemeinnützigen Projekt in Lateinamerika engagieren willst: Alle Projekte werden dich und einen kleinen Teil unserer Erde nachhaltig verändern. Ausserdem zeigt ein Job[nbsp]als Volontär in deinem Lebenslauf, dass du bereit bist, über deinen Tellerrand hinaus zu schauen.» Hehre Versprechen. Dass Reisen und Praktika junge Erwachsene langfristig prägen können, sei unbestritten. Dass diese Praktika jedoch unsere Erde nachhaltig verändern, ist weniger realistisch. Mit dem Flugzeug nach Nepal jetten, um dort zwei Wochen lang Bio-Kaffee zu ernten, ist erstens alles andere als nachhaltig. Auch das Ernten von Palmöl in Guinea mit der Organisation Novelle Planète erstaunt. Zweitens ist auch die Betreuung von unterprivilegierten Kindern in Entwicklungsgebieten nicht nachhaltig, wenn die Vertrauenspersonen nach 1-2 Wochen wieder abreisen. Drittens ist es eine Zumutung für alle, wenn 18-Jährige ohne Vorbereitung in Ghana temporär Klassen von bis zu 60 Kindern eigenständig unterrichten. Und viertens ist nicht bewiesen, dass zweiwöchige Auslandeinsätze im CV tatsächlich eine positive Wirkung bei potenziellen Arbeitgebern erzeugen. Glücklicherweise ist das Schweizerische Rote Kreuz dabei, für Voluntouristen eine Einführung in Ausland-Einsätze sowie eine Evaluation der Erfahrungen aufzugleisen.

Kritischer Blick wächst
Am 1. Februar 2017 thematisierte die Gratiszeitung „20 Minuten“ die Frage, ob und wie weit Freiwilligenarbeit bei der Jobsuche hilft. Denn viele Jugendliche und junge Erwachsene geben bei der Stellensuche ihr mehrwöchiges Praktikum in einem Entwicklungsprojekt als zusätzliche Lebenserfahrung an. Der Artikel zeigte die Resultate einer Online-Umfrage, in welcher lediglich 16% der jungen Erwachsenen angeben, dass das freiwillige Engagement bei ihrer Jobsuche als Pluspunkt wahrgenommen wurde. Bei manchen Unternehmen sind kurze Auslandeinsätze weniger wichtig als längere Commitments in heimischen Jugendverbänden und Sportvereinen. Eine Online-Kommentatorin des Artikels wies auf den kritischen 18-minütigen Bericht des Westschweizer Fernsehens hin, wo vor falschen Waisenhäusern in Kambodscha gewarnt wird, die Voluntouristen aus aller Welt anziehen, um ihnen aus der Region angekarrte Kinder wie Zootiere vorzuführen: www.rts.ch/play/tv/mise-au-point/video/le-tourisme-des-orphelinats?id=8347515 (Beginn bei Minute 6:00). An Gymnasien in der Suisse Romande wird inzwischen vor Voluntourismus-Einsätzen gewarnt.

Lukas Niederberger