9. Mai 2019

SGG unterstützt Studie: Kompetenzen von Freiwilligen – ein unterschätztes Potenzial

In einer Zeit, in der Unternehmen Strategien suchen müssen, um junge Menschen an sich zu binden, stellt sich die Frage, wie es kommt, dass Jugendliche Zeit und Energie für eine ehrenamtliche Vereinstätigkeit aufwenden, für die sie weder einen Lohn noch gute Noten bekommen. Mit dieser Frage wandten sich die Forscherinnen des EHB an rund 40 ehrenamtlich Tätige im Alter von 16 bis 25 Jahren, die sich zum Zeitpunkt der Befragung grösstenteils in einer Ausbildung (Lehre, Mittelschule, FH oder Universität) befanden oder in einigen Fällen bereits im Erwerbsleben standen. Ihre Aussagen zeigen, dass die Jugendlichen dank der Unterstützung von Vereinsverantwortlichen und Gleichaltrigen Selbstvertrauen gewinnen, Eigeninitiative entwickeln und ihre Kooperationsfähigkeit ausbauen. Dank der Verantwortung, die ihnen früh übertragen wird, können sie Erfahrungen in der Planung, Organisation und Projektleitung sammeln und müssen dabei zugleich den Spagat zwischen den verschiedenen Vorgaben meistern. Leider werden diese Kompetenzen in der Arbeits- und Bildungswelt zu wenig anerkannt.

Unterschiedliche Motivationen

Ob sich Jugendliche für ein Engagement in einem Verein entscheiden oder nicht, hängt massgeblich davon ab, welche Gelegenheiten sich ihnen im näheren Umfeld bieten, etwa im Verwandten- und Freundeskreis oder in der Region. Das Beziehungsnetz spielt beim ehrenamtlichen Engagement von Jugendlichen eine grosse Rolle. Es gibt aber auch Jugendliche, die sich ohne Zutun ihres Umfelds für einen Verein engagieren, etwa weil sie sich für eine ganz bestimmte Aufgabe oder einen ganz bestimmten Bereich interessieren. Eva zum Beispiel engagiert sich in der freiwilligen Feuerwehr, Sam ist dem Jugend-Rotkreuz beigetreten, weil er seinen Mitmenschen helfen will. Ein weiterer Grund, sich für einen Verein zu engagieren, kann auch im Wunsch begründet sein, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Das trifft etwa auf Jugendliche zu, die einem Sport- oder einem Kulturverein beitreten. So haben sie Zugang zu einem Umfeld, das sie interessiert, und erhalten dafür manchmal eine kleine Gegenleistung, etwa in Form von Getränken oder Gratiseintritten. Die Gründe für das Vereinsengagement von Jugendlichen sind aber nicht zwingend dieselben, die sie dazu veranlassen, sich längerfristig für den Verein zu engagieren. Was also bringt Jugendliche dazu, einem Verein längerfristig treu zu bleiben und sich dauerhaft zu engagieren? Zwei Faktoren spielen hier eine massgebliche Rolle: das Zugehörigkeitsgefühl und das Ansehen, das mit dem Vereinsengagement einhergeht.

Zugehörigkeitsgefühl

Gerade für Jugendliche, die an der Schwelle zum Erwachsenenleben stehen, scheint das Zugehörigkeitsgefühl eine wichtige Rolle zu spielen. Die «werdenden Erwachsenen» sind auf der Suche nach einer neuen Identität und haben ein starkes Bedürfnis, verschiedene Aktivitäten, Ideen und Positionen auszuprobieren und verschiedene Entscheidungen zu testen. Freiwilligenorganisationen scheinen genau dieses Bedürfnis zu erfüllen, denn sie bieten jungen Erwachsenen die Möglichkeit, verschiedene Situationen zu erleben und in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen. Die jungen Freiwilligen fügen sich in eine Gemeinschaft ein, in der man ihnen Vertrauen entgegenbringt und ihnen Verantwortung überträgt. Zugleich erfüllt sich der Wunsch der Jugendlichen nach Gruppenzugehörigkeit. Das Gefühl, vertrauenswürdig zu sein, einer Gruppe anzugehören, mit Gleichgesinnten gesellige Momente zu erleben und sich über die ehrenamtliche Tätigkeit hinaus austauschen zu können, motiviert junge Menschen zu einem Engagement. Besonders hervorgehoben wurde von den befragten Jugendlichen das Zugehörigkeitsgefühl. Die Menschen, die sie im Rahmen ihrer freiwilligen Tätigkeit kennenlernen, spielen in ihrem Leben eine wichtige Rolle. Sie betrachten sie als Freunde, wenn nicht gar als «zweite Familie». Das trifft etwa auf Dario (22) zu, der sich in der freiwilligen Feuerwehr engagiert: «Wir sind 30 Leute in der freiwilligen Feuerwehr, ich habe also 30 neue Freunde gefunden.» Viele der Befragten, ob in kleinen oder grossen Freiwilligenorganisationen tätig, gaben an, dass es ihnen Freude bereitet, ausserhalb der Schule, des Arbeitsplatzes und der Familie Zeit mit Gleichgesinnten zu verbringen, die die gleichen Hobbys und Vorlieben haben, die gleichen Ideale und Werte vertreten. Die Freiwilligenarbeit betrachten sie nicht als Last. Die jungen Freiwilligen werden getragen von der guten Stimmung in der Gruppe.

Ansehen und Verantwortung

In der Arbeitswelt muss man sich Vertrauen allmählich verdienen. Im Vereinsleben hingegen können Jugendliche schnell Verantwortung übernehmen. Diese Anerkennung treibt die Jugendlichen an, viel Zeit und Energie in die freiwillige Arbeit zu stecken. So war es auch bei Céline, die mit 23 Jahren Personalverantwortliche in einem Musikclub wurde, in dem sie zuerst an der Bar und der Kasse gearbeitet hatte. «Ich bin diejenige, die alles koordiniert und die Sozialversicherungsbeiträge bezahlt. […] Das ist ziemlich lustig, weil viele Angestellte älter sind als ich. Einige sind über 30, ich bin mit 23 Jahren so etwas wie das Nesthäkchen.» Céline freut sich, dass sie die Gelegenheit bekam, in eine neue Rolle zu schlüpfen, die ihr aufgrund der damit einhergehenden Verantwortung auch ein gewisses Ansehen einbringt. Sie mobilisiert all ihre Ressourcen, um zu beweisen, dass sie den anvertrauten Aufgaben, zum Beispiel der Budgetverwaltung, gewachsen ist. Wie Céline engagiert sich auch Nicolas ehrenamtlich. Tagsüber arbeitet er als Hilfsarbeiter auf dem Bau, abends ist er Vizepräsident in einem Jugendparlament. Auch er ist stolz auf das Ansehen und die Verantwortung, die mit dieser Tätigkeit einhergehen. Viele Freiwillige geben an, dass ihnen in anderen Gesellschaftsbereichen, etwa in der Schule oder am Arbeitsplatz, dieses Vertrauen weitgehend versagt bleibt. Sie finden es frustrierend, dass sie in eine Rolle gedrängt werden, die sie zur Passivität zwingt.

Potenziale entdecken und entwickeln

«Ich konnte alles, was ich ausserhalb des Berufslebens in der Kommission gelernt habe, in der Lehre umsetzen… Ich habe mehr Selbstvertrauen gewonnen.» Nicht nur die 20-jährige Tiziana, Mitglied eines Jugendparlaments, gab in der Befragung an, dass sie an der ehrenamtlichen Tätigkeit persönlich gewachsen ist. Dank der Freiwilligenarbeit lernte sie sich besser kennen, sie wuchs an ihren Aufgaben, gewann Selbstvertrauen, lernte mit Stress umzugehen, im Team zu arbeiten und anderen zuzuhören. Werden diese Selbst- und Sozialkompetenzen mit anderen Ressourcen kombiniert, bringen Jugendliche die wichtigsten Voraussetzungen mit, um eine ganze Bandbreite an Aktivitäten fachkundig auszuführen. Das war auch bei Joël (19), Mitglied der Landjugend, der Fall. «Wenn man an einer Bar arbeitet, wo 100 bis 150 Menschen vorbeikommen, braucht man eine gewisse Gelassenheit und auch etwas Organisationstalent. Gegen zwei bis drei Uhr morgens können die Leute schon etwas aggressiv werden.» Neben übergreifenden Kompetenzen erwerben Freiwillige auch spezifische Fachkompetenzen auf dem Tätigkeitsgebiet des Vereins. Da die Freiwilligenorganisationen in Komitees oder Arbeitsgruppen organisiert sind, können die Jugendlichen administrative oder technische Kompetenzen erwerben, etwa indem sie Traktandenlisten oder Sitzungsprotokolle verfassen, ein Budget führen oder präsentieren. Das Engagement im Verein gibt ihnen ferner die Möglichkeit, sich mit einem neuen Vokabular vertraut zu machen oder mit bestimmten Zielgruppen wie Kindern, Künstlern oder Menschen mit Behinderung zu interagieren.

Kompetenzen werden unterschätzt

Soft Skills, das heisst Selbst- und Sozialkompetenzen, sind in der Arbeitswelt sehr gefragt. Trotzdem sind sich Arbeitgeber der Kompetenzen, die junge Menschen bei ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit erwerben, nicht genügend bewusst. Wenn die Arbeitgeber nicht gerade selbst Erfahrungen mit Vereinsengagement haben, neigen sie dazu, die Lernergebnisse, die Jugendliche in einem anderen Rahmen erzielen und die nicht zu einem Bildungsabschluss führen, zu unterschätzen. Damit Vereine ebenso als Lernorte und Orte der Kompetenzentwicklung betrachtet werden wie Schulen und Unternehmen, müssen sich die Freiwilligen selbst ihrer Kompetenzen und ihrer Stärken bewusst werden und diese sichtbar machen. Das nichtformale und informelle Lernen in Freiwilligenorganisationen muss in Zukunft stärker anerkannt werden. Mit dem Dossier «Freiwillig Engagiert» (www.dossier-freiwillig-engagiert.ch) ist ein erster Schritt in diese Richtung getan. Das Dossier ermöglicht es, Vereinsaktivitäten einheitlich zu erfassen und zu beschreiben und die erworbenen Kompetenzen sowie die absolvierten Aus- und Weiterbildungen zu dokumentieren.

Sandrine Cortessis, Saskia Weber Guisan, Evelyn Tsandev
Le bénévolat des jeunes: une forme alternative d’éducation.
Zürich, Seismo Verlag, 2019 / 192 Seiten, CHF 32.-, ISBN 978-2-88351-086-9