10. Januar 2016

Die Willensnation reanimieren: Milizarbeit – die Brücke zwischen Staat und Volk

Gemeinden haben Mühe, die Sessel im Gemeinderat, in der Schul- und Kirchenpflege mit kompetenten Bürgerinnen und Bürgern zu besetzen. Die Bereitschaft zur politischen Milizarbeit nimmt ab. Die Gründe dafür sind zahlreich, die Lösungswege rar bis inexistent. Andreas Müller, Vizedirektor der Denkfabrik „Avenir Suisse“, hat im Januar die Studie „Bürgerstaat und Staatsbürger. Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne“ herausgegeben. Die SGG sprach mit Andreas Müller.

Gemeinden haben Mühe, die Sessel im Gemeinderat, in der Schul- und Kirchenpflege mit kompetenten Bürgerinnen und Bürgern zu besetzen. Die Bereitschaft zur politischen Milizarbeit nimmt ab. Die Gründe dafür sind zahlreich, die Lösungswege rar bis inexistent. Andreas Müller, Vizedirektor der Denkfabrik „Avenir Suisse“, hat im Januar die Studie „Bürgerstaat und Staatsbürger. Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne“ herausgegeben. Die SGG sprach mit Andreas Müller.

SGG: Andreas Müller, die liberale Denkfabrik „Avenir Suisse“ hat im Januar die Studie „Bürgerstaat und Staatsbürger. Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne“ herausgegeben. Dieses Thema ist bei Ihnen, dem Vizedirektor des Thinktanks, angesiedelt. Warum befasst sich Avenir Suisse und nicht die Neue Helvetische Gesellschaft oder das Zentrum für Demokratie mit der Zukunft des politischen Milizsystems in der Schweiz?

Müller: Die beiden genannten Institutionen befassen sich durchaus mit dem politischen Milizsystem. Es wurde aber bisher kaum in seiner ganzen Breite, von den Kirchen- und Schulpflegen in den Gemeinden, über die Situation in den Kantonen, bis hin zum nationalen Parlament untersucht – obwohl es zu den wesentlichen Pfeilern der schweizerischen Staatsidee zählt. Diese Lücke soll das Buch schliessen. Uns schien, dass das Milizsystem, im Gegensatz etwa zur direkten Demokratie oder zum Föderalismus, von der Forschung zu stiefmütterlich behandelt wird.

SGG: Für das helvetische Milizsystem spricht zweifellos, dass die aktive Beteiligung an der Staatsführung ein Ausdruck von republikanischer Tugend ist, ganz im Sinne von John F. Kennedys berühmten Satz: „Wir sollen uns nicht nur fragen, was der Staat für uns tun soll, sondern was wir für den Staat tun können.“ In Ihrem Buch stellen Sie dem Schweizer Milizsystem eine eher schlechte Diagnose: Zwei Drittel der 2352 Schweizer Gemeinden haben Mühe, ihre Exekutivämter zu besetzen. Ein Drittel der rund 14‘000 Gemeinderäte wird ohne Wahl durchgewinkt. Und bei den 17‘000 Gemeinde-Parlamentariern und den 70‘000 Kommissionsmitgliedern in Kirchenpflege und Schulpflege ist es nicht viel anders. Der Mit-Autor Martin Heller betont, dass die Schweiz mit dem politischen Milizsystem der demokratischen Durchschnittlichkeit Priorität gebe gegenüber dem qualitativen Spezialistentum. Tatsächlich werden die gesellschaftlichen Aufgaben immer komplexer. Wir haben viele Aufgaben im Bereich Bildung, Soziales, Gesundheit an Spezialisten delegiert. Und bei Leitungsaufgaben in der Wirtschaft ist ebenfalls Excellence gefordert. Ausgerechnet in der politischen Führung soll hingegen Laienwissen genügen. Tendieren Sie nach der langen Auseinandersetzung mit dem Thema eher für ein System mit ehrenamtlichen Laienpolitikern oder mit bezahlten Berufspolitikern?[nbsp]

Müller: Aus unserer Sicht braucht es beides. Die wichtige Funktion von Laienpolitikern zeigt sich am stärksten in den kleinen Gemeinden. Dort sind professionalisierte Verwaltungen wegen dem geringen Arbeitsaufwand kaum möglich. Eine Abschaffung des Milizsystems würde so Föderalismus und Subsidiarität in Frage stellen. Es gibt weitere Gründe: Das Milizsystem sorgt dafür, dass sich die Bürger nicht als Zuschauer und Politik-Konsumenten zurücklehnen, sondern durch ihre Mitarbeit den Sinn für das Gemeinwohl weiterentwickeln. Ohne Milizsystem wird die direkte Demokratie zur Stimmungsdemokratie. Das heisst aber nicht, dass die Schweiz durchwegs nebenamtlich betrieben werden sollte. Grosse Städte, Kantone und Bund benötigen eine professionalisierte Verwaltung, zumindest in den Exekutiven braucht es Vollblutpolitikerinnen und -politiker.

SGG: In einer Umfrage im Buch nennen die Milizpolitiker und -politikerinnen ihre stärksten Motivationen für ihre freiwillige Miliztätigkeit: sich für die Gemeinschaft nützlich machen (90%), etwas bewegen und gestalten können (80%) sowie Kontakte finden und knüpfen (40%). Die höchste Motivation, nämlich der Dienst an der Gemeinschaft, setzt Identifikation und emotionale Nähe zum Ort voraus. Wir leben heute aber in einer „Multi-local-Society“: Wir wohnen an 1-2 Orten, arbeiten an 1-2 Orten und verbringen die Freizeit an 1-2 Orten. Hinzu kommt, dass sich jüngere Menschen freiwillig eher überregional engagieren, vor allem per Internet. Dürfte nicht gerade diese Tatsache der globalisierten Pendlergesellschaft die grösste Bedrohung für ein funktionierendes Milizsystem sein?

Müller: Das ist eine der grösseren Gefahren. Jüngere Personen sind im Milizsystem auf Gemeindeebene untervertreten. Das hat mit der höheren Mobilität und der geringeren Verwurzelung der Jüngeren zu tun, die ihren Wohnsitz je nach Arbeits- und Ausbildungsort häufig wechseln. Darum diskutieren wir im Buch Ansätze wie die Aufhebung der kommunalen Wohnsitzpflicht oder der vermehrte Einbezug von verfügbaren Qualifikationen via digitale Technologien.

SGG: Viele Gemeinde- und Kantonsräte treten bereits nach einer Amtsperiode wieder zurück. Sie klagen über die wachsende Polarisierung in der Bevölkerung und zwischen den Parteien sowie über die gnadenlose Kritik in Medien und Öffentlichkeit – gegen einzelne Personen wie auch gegen die „classe politique“ im Allgemeinen. Gemeinde- und Kantonspolitiker realisieren auch, dass ihre Posten heute keine Steigbügel mehr sind für ein Amt auf der nationalen Bühne. Dort gibt es immer mehr Quereinsteiger, die ohne die Ochsentour direkt nach Bern gehen. Soll man die Gemeinden und Kantone darum von professionellen Verwaltungen regieren lassen?

Müller: Das wäre aus meiner Sicht zu kurzfristig gedacht. Was richtig ist: Wertschätzung und Ansehen dieser Ämter sind eine ganz wichtige Komponente. Je mehr Amtsträger als „classe politique“ verunglimpft werden, desto geringer die Bereitschaft der Bürger, solche Ämter zu übernehmen. Die Aufgabe der Parteien wäre es, ihre Rekrutierungsfunktion zu erfüllen und nicht Polemiken gegen eine vermeintliche „classe politique“ zu entfachen. Die Wertschätzung für die Milizpolitiker hat in den letzten Jahren abgenommen. Ich beobachte eine gewisse Ratlosigkeit, wenn es darum geht, wie dieses Ansehen wieder erhöht werden könnte: Es gibt kein Patentrezept.

SGG: Im nationalen Parlament wirken zahlreiche Berufspolitiker sowie Selbständige. Es gibt kaum Angestellte und schon gar keine angestellten Führungskräfte. Unternehmen betonen gleichzeitig aber gerne ihren Einsatz im Bereich „Corporate Social Responsibility“ (CSR), „Corporate Citizenship“ und „Corporate Community Involvement“. Wäre die effektivste Massnahme der Wirtschaft im Bereich CSR nicht gerade, Mitarbeitende grosszügig freizustellen für die Wahrnehmung von Milizämtern?

Müller: Ich glaube, die Unternehmen werden sich wieder vermehrt der Bedeutung der Milizarbeit bewusst. Darum gibt es im Moment Initiativen, etwa von economiesuisse, die Unternehmen motivieren sollen, die Bedingungen für Miliztätige zu verbessern. Eines der grössten Probleme ist die Zeitknappheit. Hier können die Unternehmen dafür sorgen, dass Erwerbs- und Milizarbeit miteinander vereinbar sind.

SGG: Sie haben in der Studie das Thema Milizarmee weitgehend umschifft. Zwischen den Zeilen ist es aber präsent. Die Armee braucht nicht mehr viele Laien, sondern wenige Spezialisten, um der tatsächlichen Bedrohungslage (Wirtschaftsspionage, Terrorismus, Cyberangriffe) zu begegnen. Am Ende Ihrer Studie gelangen Sie zur Forderung, statt der Wehrpflicht für Schweizer Männer eine allgemeinde Dienstpflicht für Frauen und Männer, Schweizer und niedergelassene Ausländer einzuführen. Wird Avenir Suisse sich nicht zwingend zur Milizarmee äussern müssen, wenn sich die Idee der allgemeinen Dienstpflicht tatsächlich realisieren soll?

Müller: Der Fokus der vorliegenden Publikation lag bewusst auf dem politischen Milizsystem. Es ist uns bewusst, dass Querbezüge sowohl zur allgemeinen Freiwilligenarbeit wie auch zur militärischen Seite des Milizsystems bestehen – darum kommen sie auch zur Sprache. Indem wir eine allgemeine Dienstpflicht anstelle der traditionellen Wehrpflicht befürworten, äussern wir uns auch zur Armee.

SGG: Avenir Suisse erwartet, dass wir das politische Milizsystem nicht mit vielen kleinen Massnahmen wie etwa der Lockerung der Rekrutierung oder durch Vergütungen retten können. Sie sind überzeugt, dass es einen grossen Wurf brauche, nämlich die obligatorische Dienstpflicht für alle im Land lebenden Erwachsenen. Ich möchte dennoch eine Massnahme nennen, mit der man das politische Milizsystem attraktiver machen könnte und sollte: die politische Bildung der Jugend. Laut Studien besitzen die Jugendlichen in der Schweiz im internationalen Vergleich wenig Wissen und Willen zur politischen Mitwirkung. Glauben Sie, dass mit mehr politischer Bildung in den Lehrplänen sowie mit dem Aufbau von Kinder- und Jugendparlamenten in den Gemeinden das Milizsystem gerettet werden könnte?

Müller: Auch wir erachten diesen Aspekt als überaus wichtig. Es geht nicht nur um die Teilnahmebereitschaft, sondern ebenso um die Teilnahmefähigkeit. Wir haben im Übrigen nichts einzuwenden gegen die rund zwanzig kleineren Massnahmen, die wir in der Publikation analysieren. Nur: Viele dieser Vorschläge wurden in zahlreichen Gemeinden umgesetzt. Trotzdem gab es bisher keine Trendwende. Es wird immer schwieriger, engagierte Personen zu finden. Setzt sich dieser Trend in den nächsten Jahren fort, braucht es entweder eine weitgehende Professionalisierung oder Reformen wie den allgemeinen Bürgerdienst.

SGG: Sogar die WochenZeitung (WoZ), die das Heu nicht auf der gleichen Bühne hat wie die liberale Denkfabrik Avenir Suisse, hat sich mit Ihrer Idee der obligatorischen Dienstpflicht befasst und Sie in einem Punkt gelobt: die Integration der Niedergelassenen. Bei der von Ihnen propagierten allgemeinen Dienstpflicht würden alle Frauen und Männer, In- und Ausländer, im Alter zwischen 20 und 45 oder gar bis 70 Jahre während 200 Tagen ehrenamtlich für die Gesamtgesellschaft wirken. Dieser Dienst kann in verschiedenen Bereichen geleistet werden: Armee, Zivilschutz, Rettung, Sozialbereich, Behörden, Umwelt und Logistik sowie Entwicklungszusammenarbeit. Auch sollen Betreuungsaufgaben von Angehörigen teilweise angerechnet werden. Bei einer so radikalen Veränderung ist Widerstand programmiert. Darum bitte ich Sie zum Schluss, etwas in die Sterne zu schauen und mir zwei Zahlen zu nennen: Mit welcher Wahrscheinlichkeit wird Ihre Idee eines Tages realisiert? Und in welchem Jahr wird Ihre Idee Realität?

Müller: Die provokative Idee „Bürgerdienst“ soll aufzeigen, wo die Schwächen der heutigen Institutionen liegen. Wir entfernen uns immer weiter von der Idee, dass jeder Laie nach seinen Kräften neben- und ehrenamtlich in der Milizpolitik mittut. Umfragen zeigen, dass die Idee eines allgemeinen Bürgerdienstes überraschend populär ist. Die Schweizerinnen und Schweizer hängen an der Milizidee, auch wenn sie persönlich ihren Beitrag immer weniger leisten können oder wollen. Wir benötigen darum eine grundsätzliche Diskussion über das Milizsystem und keine Denkblockaden. Wenn das Milizsystem trotz der schwierigen Realität in den Gemeinden idealisiert wird, wird es zu einem unwirklichen Mythos. Die Bürgerdienstidee war vor zwei Jahren ein Gegenvorschlag zur GSOA-Initiative im Parlament und hat recht viele Stimmen erhalten. Auch wenn ich keine Wahrscheinlichkeit oder Jahreszahl nennen möchte, geniesst die Idee mehr Sympathie, als viele annehmen.

Andreas Müller (1965, lic. phil./MAES) ist Vizedirektor der Denkfabrik „Avenir Suisse“ und leitet dort schwerpunktmässig staats- und gesellschaftspolitische Projekte. Vor seinem Eintritt bei Avenir Suisse war er persönlicher Mitarbeiter von Bundesrat Johann Schneider-Ammann, davor Kommunikationsberater der Bundesräte Pascal Couchepin und Didier Burkhalter.

Das Gespräch führte Lukas Niederberger