15. Januar 2016

Pioniere für Menschen mit Demenz und Ihre Familien

Tagesstätte Atrium in Basel – ein Einsatzort vom Programm SeitenWechsel «Wenn wir hier in der Tagesstätte fu?r Menschen mit Demenz eine Entscheidung treffen, bekommen wir deren Wirkung oft ‚fadegrad‘ und unreflektiert zu spu?ren. Beispielsweise ein Tagesgast, der sich fragt, ob seine Partnerin u?berhaupt weiss, wo er ist: Sollen wir ihn mitnehmen auf den täglichen Ausflug? Tut ihm heute der Ausflug gut oder nicht?

Tagesstätte Atrium in Basel – ein Einsatzort vom Programm SeitenWechsel
«Wenn wir hier in der Tagesstätte fu?r Menschen mit Demenz eine Entscheidung treffen, bekommen wir deren Wirkung oft ‚fadegrad‘ und unreflektiert zu spu?ren. Beispielsweise ein Tagesgast, der sich fragt, ob seine Partnerin u?berhaupt weiss, wo er ist: Sollen wir ihn mitnehmen auf den täglichen Ausflug? Tut ihm heute der Ausflug gut oder nicht? Wir sind zuversichtlich, hoffen, dass es ihm gut tue, entscheiden ihn mitzunehmen und im Laufe des Nachmittags eskaliert seine Verlorenheitskrise. Da merken wir sofort, dass es der falsche Entscheid war. Wir mu?ssen also risikofreudig und chaosresistent sein und immer wieder evaluieren», sagt Karin Beyeler. Sie ist Leiterin der Tagesstätte im Atrium fu?r Menschen mit Demenz und Mitglied der Geschäftsleitung der Stiftung Basler Wirrgarten. Diese leistet in der Schweiz Pionierarbeit. Ihr Einbezug der Angehörigen ist einzigartig. Die Leiterin Geschäftsstelle [&] Atrium der Stiftung Basler Wirrgarten, Irene Leu, hatte vor 15 Jahren die Idee, ein umfassendes Angebot fu?r Menschen mit Demenz und deren Angehörige zu kreieren.

Angehörige haben mit der Stiftung einen Ort, wo sie entlastet und, sehr wichtig, regelmässig geschult werden fu?r den Umgang mit der Krankheit. Dies verhindert Erschöpfung und hilft, Überforderung zu erkennen. Die Abläufe sind strukturiert, beispielsweise gibt es bei Eintritt in die Tagesstätte und anschliessend individuell vereinbarte, regelmässige Gespräche mit den Angehörigen, in denen Erwartungen und Anliegen der Angehörigen aufgenommen und Massnahmen zur Entlastung besprochen werden. Fu?r schwierig zu bewältigende Situationen zu Hause werden gemeinsam Lösungen gesucht. Der Fokus liegt auf Lebensqualität mit der Krankheit Demenz. Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen werden so zeitgleich auf ihrem Weg mit der Krankheit begleitet. Dieser strukturierte Prozess mit Einbezug und Schulung der Angehörigen eines Demenzbetroffenen in der Tagesstätte bis zu seinem Umzug in ein Pflegeheim oder bis zu seinem Tod war in der Schweiz vor 15 Jahren einmalig.
In der Tagesstätte im Atrium werden werktags mittel- bis schwerkranke Menschen mit Demenz betreut. «Sie sind konfrontiert mit Einschränkungen in allen Facetten der Orientierung, der Sprache, leiden an Erkennungsstörungen und Verlust adäquater Handlungsfähigkeiten. Sie sind mobil, emotional empfänglich fu?r Sinnliches und sind angewiesen auf eine fröhliche Atmosphäre. Sie sind interessiert an Begegnungen mit anderen Menschen und geniessen gemeinsame Erlebnisse. Wenn sie nicht in der Tagesstätte sind, leben sie bei ihren Familien oder mithilfe der Spitex zuhause», beschreibt sie Karin Beyeler.

Die Tagesstätte im Atrium ist von Montag bis Freitag offen. Um 10 Uhr werden die Tagesgäste von Angehörigen oder Pflegenden gebracht und bleiben bis 17.45 Uhr. „Wir fangen spät an, weil Menschen mit Demenz am Morgen länger brauchen. Die Bewegungen sind beschwerlich, sie mu?ssen sich erst orientieren. Gäste, die alleine zuhause wohnen, holen wir mit dem Bus ab. So können wir sicherstellen, dass sie wirklich adäquate Kleidung tragen, wenn sie kommen.“ In der Tagesstätte gibt es einen Snoezelen-Raum und einen Klangraum, um alle Sinne anzusprechen. Freiwillige arbeiten mit, so dass oft eine 1:1-Betreuung gewährleistet ist, und die Leitung lässt sich einiges einfallen, um die Betreuten zu unterhalten. Einmal kam zum Beispiel ein Slampoet vorbei und trainierte das Betreuungsteam im Rezitieren von Gedichten. Die Tagesgäste wurden in den Event miteinbezogen und bekannte und unbekannte Gedichte wurden zum gemeinsamen Erlebnis.

Wenn SeitenWechsler im Einsatz sind, werden diese – wie Angehörige – zum Thema Demenz geschult. Dann begru?ssen sie um 10 Uhr die ankommenden Gäste, bringen ihnen Kaffee oder leiten zum Kaffeeholen an. Da kann es vorkommen, dass ein SeitenWechsler Karin Beyeler meldet, Frau X habe ihren Kaffee selbst geholt – wo sie es doch nicht mehr konnte. Karin Beyeler schätzt dies: «SeitenWechsler haben einen frischen Blick im Umgang mit unseren Gästen.» Turnen und Ru?sten fu?r das Mittagessen ist danach Programm fu?r alle. Die Fu?hrungskräfte essen, wie die Betreuenden auch, mit den Tagesgästen zu Mittag. Das bedeutet, wahrzunehmen, wie sich die Einschränkungen auswirken und dann die Menschen zu unterstu?tzen: ihnen immer wieder die Gabel in die Hand geben, immer wieder «en Guete» sagen gehört zum Beispiel dazu, damit sie die Situation erfassen, «aha, wir sind am Essen». Nachmittags geht es dann täglich auf eine kleine Exkursion.
«Die Arbeit ist anspruchsvoll, aber wir lassen die SeitenWechsler nicht alleine. Sie haben eine Ansprechperson im Team, die schaut, dass sie nicht in hilflose Situationen kommen, sondern jederzeit handlungsfähig bleiben», sagt Beyeler. Der Seiten-Wechsel in der Demenz-Tagesstätte soll in der Stretch-Zone stattfinden, nicht in der Panikzone. «In dieser Woche können sich die SeitenWechsler Ziele setzen zu Themen, mit denen sie in ihrem eigenen Betrieb nicht konfrontiert werden können. Sie mu?ssen sehr flexibel sein, nicht lösbare Probleme aushalten.» Das verlangt den Fu?hrungskräften einiges ab, die meisten von ihnen sind Macher. «Wir können oft nicht ‚machen’ und ‚lösen’, sondern mu?ssen aushalten und abwarten. Das erfordert Geduld und nochmals Geduld», sagt Karin Beyeler.

Andere Arten der Kommunikation kennenlernen ist ebenfalls oft Thema im SeitenWechsel. Fu?hrungskräfte sind Konflikte gewohnt und mu?ssen kreativ kommunizieren. «Bei uns kommt hinzu, dass einen das Gegenu?ber nicht versteht. Wir kommunizieren dann u?ber Emotionen, haben zum Beispiel im Turnen via das Erlebnis den Plausch, ohne Worte. Oder u?ber Spiel und Singen.» Und der Benefit der sozialen Institution selbst? SeitenWechsler sind Multiplikatoren: «Alle, die bei uns waren, wissen nachher etwas u?ber Demenz und wie personell aufwendig die Betreuung ist. Das erzählen sie im Familien- und Bekanntenkreis weiter, im Idealfall auch im Unternehmen. Fu?r uns ist das ein Riesengewinn. Ein SeitenWechsler, der eine Angestellte mit einem demenzbetroffenen Mann hat, fragte sich bei uns zum Beispiel: Wenn eine Tagesstätte erst um 10 Uhr aufmacht, was macht die Angestellte mit ihrem demenzerkrankten Angehörigen bis dann?» Er lancierte ein Projekt in seinem Betrieb zum Umgang mit betreuenden Mitarbeitenden. Ausserdem ist SeitenWechsel gute Werbung: «Alters- und Pflegeheime kommen oft erst in die Medien, wenn etwas schlecht läuft. Bei uns sieht man, was gut läuft.»

J. Schärli, Programmleiterin SeitenWechsel