13. Januar 2016

Carlo Knöpfel: Sozialhilfe unter Druck – sieben Thesen

Wer sich Gedanken zu den aktuellen Entwicklungen in der Sozialhilfe machen will, ist gut beraten, sich die Grundlagen unseres Zusammenlebens in der Schweiz und den daraus ableitbaren Regelungen zur Hilfe fu?r Menschen in Not in Erinnerung zu rufen.[nbsp]Nichts liegt dabei näher, als dazu einen Blick in die Bundesverfassung zu werfen, und insbesondere die Präambel sowie die einschlägigen Artikel 2, 7, 8, 12 und 115 zu lesen.

Wer sich Gedanken zu den aktuellen Entwicklungen in der Sozialhilfe machen will, ist gut beraten, sich die Grundlagen unseres Zusammenlebens in der Schweiz und den daraus ableitbaren Regelungen zur Hilfe fu?r Menschen in Not in Erinnerung zu rufen.[nbsp]Nichts liegt dabei näher, als dazu einen Blick in die Bundesverfassung zu werfen, und insbesondere die Präambel sowie die einschlägigen Artikel 2, 7, 8, 12 und 115 zu lesen.

Präambel
Im Namen Gottes des Allmächtigen!
Das Schweizervolk und die Kantone, in der Verantwortung gegenu?ber der Schöpfung,
im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie,
Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenu?ber der Welt zu stärken,
im Willen, in gegenseitiger Ru?cksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,
im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenu?ber den ku?nftigen Generationen, gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht,
und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen
, geben sich folgende Verfassung:

Art. 2 Zweck, Absatz 2
Sie (gemeint ist die Schweizerische Eidgenossenschaft) fördert die gemeinsame Wohlfahrt, die nachhaltige Entwicklung, den inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt des Landes.

Art. 7 Menschenwu?rde
Die Wu?rde des Menschen ist zu achten und zu schu?tzen. Art. 8 Rechtsgleichheit, Absatz 1 Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

Art. 12 Recht auf Hilfe in Notlagen
Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, fu?r sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die fu?r ein menschenwu?rdiges Dasein unerlässlich sind.

Art. 115 Unterstu?tzung Bedu?rftiger
Bedu?rftige werden von ihrem Wohnkanton unterstu?tzt. Der Bund regelt die Ausnahmen und Zuständigkeiten.

Erste These:
Die Sozialhilfe ist im Vergleich zur medialen Präsenz ein materieller Nebenschauplatz in der Sozialpolitik.

Die aktuellsten Zahlen zu den Sozialversicherungen und zur Sozialhilfe stammen aus dem Jahr 2012. In diesem Jahr wurden 142 Milliarden fu?r die Leistungen in den verschiedenen Sozialversicherungen auf Bundesebene ausgegeben. Im gleichen Jahr flossen auf kantonaler und kommunaler Ebene 2.4 Milliarden in die Sozialhilfe. Setzt man die beiden Zahlen in Relation, so entsprechen die Ausgaben fu?r die Sozialhilfe nicht einmal 2 Prozent der Ausgaben fu?r die Sozialversicherungen. Man kann aber noch eine andere Rechnung aufmachen. Die Kantone und Gemeinden gaben fu?r den Sozialbereich im gleichen Jahr insgesamt 8.6 Milliarden aus. Darin enthalten sind Zahlungen fu?r die Individuelle Prämienverbilligung, die Ergänzungsleistungen, die Stipendien, die Kinderzulagen und vieles anderes mehr. Auch die Sozialhilfe ist in dieser Summe bereits beru?cksichtigt.
In diesem Vergleich macht die Sozialhilfe etwas mehr als ein Viertel aller Ausgaben der Kantone und Kommunen im Sozialbereich aus. Und schliesslich zeigt ein Blick in die Vergangenheit die dynamische Entwicklung der Sozialhilfeausgaben auf. 2003 betrugen die Ausgaben fu?r die Sozialhilfe erst 1.2 Milliarden Franken. Damit ergibt sich zwischen 2003 und 2012 nahezu eine Verdoppelung dieser Aufwendungen. Es ist dieser Umstand, der ganz wesentlich die aktuelle sozialpolitische Debatte in[nbsp] den Gemeinden und Kantonen prägt.

Mit diesen 2.4 Milliarden wurden 2012 250›000 Menschen u?ber ku?rzere oder längere Zeit unterstu?tzt. Das entspricht einer Sozialhilfequote von 3.1 Prozent. Es sind alleinlebende Menschen, Alleinerziehende und Familien mit drei und mehr Kindern, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Häufig haben sie nur eine geringe berufliche Ausbildung, kämpfen mit gesundheitlichen Einschränkungen, haben Schulden, leben in beengten Wohnverhältnissen und sind sozial isoliert. Immer wieder werden bestimmte soziale Gruppen, die von der Sozialhilfe unterstu?tzt werden, in den sozialhilfepolitischen Vordergrund geschoben. Einmal sind es die alleinerziehenden Mu?tter, dann die jungen Erwachsenen ohne berufliche Ausbildung, schliesslich die working poor-Familien und in letzter Zeit die u?ber 50-jährigen Langzeitarbeitslosen.
Die Liste zeigt vor allem eines: Die Fälle auf den Sozialdiensten werden immer vielfältiger und problemreicher, die Sozialhilfe muss immer häufiger auf die Folgen des gesellschaftlichen Wandels reagieren, der sich in den Schicksalen der Individuen exemplarisch zeigt. Die Sozialhilfe ist längst nicht mehr die kurze und voru?bergehende Hilfe zur Überbru?ckung von Notlagen, sondern ein unabdingbares Element des Systems der Sozialen Sicherheit in der Schweiz. Angesichts dieser Herausforderungen und der chronisch knappen Ressourcenausstattung macht die Sozialhilfe bisher einen erstaunlich guten Job. Dies ist festzuhalten, im Wissen um problematische Einzelfälle, welche durchaus diskutabel sind, die aber nicht dazu dienen du?rfen, die ganze Sozialhilfe zu desavouieren. Die Debatte u?ber den Missbrauch in der Sozialhilfe ist aus diesem Blickwinkel völlig u?berrissen.

Zweite These:
Die Hoffnung auf eine obsolet werdende Sozialhilfe hat sich nicht erfu?llt.

Noch in den siebziger und achtziger Jahren gingen nicht wenige davon aus, dass es bis zum Jahr 2000 keine Sozialhilfe mehr geben wird, weil bis dann der Sozialstaat so gut ausgebaut sein wu?rde, dass alle sozialen Problemlagen u?ber entsprechenden Sozialversicherungen aufgefangen wu?rden. Doch nicht die Sozialversicherungen haben die Sozialhilfe obsolet werden lassen, vielmehr muss die Sozialhilfe mehr und mehr Aufgaben der Sozialversicherungen u?bernehmen. Die Gru?nde sind vielfältig. Die letzten Revisionen der Sozialversicherungen begrenzen unter dem politisch erzeugten Spardruck den Kreis der Anspruchsberechtigten. So wurde beispielsweise in der Arbeitslosenversicherung die Beitragsdauer mit der Bezugsdauer verknu?pft und längere Karenzfristen fu?r bestimmte soziale Gruppen eingefu?hrt.
In der Invalidenversicherung ku?rzte man den Katalog der IV-renten berechtigten Krankheitsdiagnosen und fu?hrte eine strengere Praxis bei der Pru?fung von Rentenanspru?chen ein. Beide Entwicklungen fu?hren zu einer verstärkten Inanspruchnahme von Sozialhilfe. Es werden keine Sozialversicherungen fu?r «neue» soziale Risiken eingerichtet. Working poor-Familien, Alleinerziehende, junge Erwachsende ohne Ausbildung, Alleinstehende mit geringer beruflicher Qualifikation: ihnen allen bleibt nur der Weg zum Sozialamt.
Versuche, solche neue Sozialversicherungen fu?r diese «neuen» sozialen Risiken einzurichten, wurden abgeblockt. Ergänzungsleistungen fu?r Familien auf nationaler Ebene fanden in der vorbereitenden Subkommission der nationalrätlichen Kommission fu?r soziale Sicherheit und Gesundheit keine Mehrheit. Die Harmonisierung der Alimentenzahlung und der -bevorschussung auf Bundesebene kommt nicht voran. Die Forderung, einen Präventionsauftrag fu?r die Arbeitslosenversicherung zu formulieren, findet kein Gehör.

Dritte These:
Die Kritik am neoliberalen Gebaren der Sozialhilfe war berechtigt, ist aber bereits u?berholt.

Die Sozialhilfeleistungen orientieren sich am sozialen Existenzminimum. Der Grundbedarf ist allerdings knapp bemessen, wie neue Studien zeigen. Er deckt gerade mal die Ausgaben der ärmsten sieben Prozent der Bevölkerung. Die Äquivalenzskala ist sehr streng, vor allem fu?r Familien. So beläuft sich die Sozialhilfe einer vierköpfigen Familie nur auf das 2.14-fache einer alleinlebenden Person. Die Übernahme der Miete ist oft zu tief angesetzt und muss darum aus dem Grundbedarf mitfinanziert werden, weil gu?nstiger Wohnraum fehlt. Der aktivierende Sozialstaat mit seinem «fordern und fördern» hat zu einer engen Verknu?pfung von Existenzsicherung und Integration gefu?hrt. Die Sozialhilfe kennt Anreize und Sanktionen. Wer sich bemu?ht, seiner Schadenminderungspflicht nachzukommen, wird belohnt. Wer einer Erwerbsarbeit nachgeht, erhält einen Einkommensfreibetrag, wer an einer Integrationsmassnahme teilnimmt, eine entsprechende Zulage.
Umgekehrt gilt aber auch: wer sich nicht um seine (berufliche) Integration bemu?ht, muss mit Ku?rzungen der Sozialhilfebeiträge rechnen. Von einer sozialen Hängematte kann keine Rede sein. In letzter Zeit ist allerdings zu beobachten, dass die Sozialhilfe in eine neokonservative Richtung zu kippen droht. Anreize soll es nicht mehr geben, nur noch Sanktionen. Wer sich nicht wohlverhält, wird bestraft. Diese Haltung kommt bereits im sogenannten Intake zum Ausdruck, wo es darum geht, zu pru?fen, ob jemand Anspruch auf Sozialhilfe hat oder nicht. Es gibt inzwischen in manchen Sozialdiensten Testarbeitsplätze, auf denen arbeitsfähige Personen in Notlagen ihre Anspruchsberechtigung «beweisen» mu?ssen, bevor ihnen Sozialhilfe zugesprochen wird. Auffällig ist auch, dass heute deutlich häufiger und schneller Sanktionen ausgesprochen werden als noch vor zehn Jahren. Die Missbrauchsdebatte zeigt ihre Wirkung: Immer wieder drängt sich der Eindruck auf, dass Sozialhilfebeziehende einem Generalverdacht ausgesetzt sind, sich Hilfeleistungen erschleichen zu wollen. Da braucht es natu?rlich schärfere Kontrollen. Sozialinspektoren dienen dem gleichen Grund. Gleichzeitig wird der Grundbedarf fu?r einzelne Gruppen reduziert, etwa bei den jungen Erwachsenen oder den renitenten Personen. Vertreterinnen und Vertreter der SVP gehen noch einen Schritt weiter und fordern eine generelle Ku?rzung der Sozialhilfeleistungen. Es soll kein soziales Existenzminimum, sondern nur noch ein materielles Existenzminimum geben: 600 Franken pro Person. Über die Äquivalenzskala wird dabei nicht gesprochen. (600 Franken fu?r eine Person heisst dann fu?r einen Vierpersonenhaushalt bei gleich bleibender SKOS-Skala 1284 Franken oder 41.40 pro Tag).
Weniger Existenzsicherung und mehr Schadenminderungspflicht ist also die neue Stossrichtung, in der sich die Sozialhilfe im Moment entwickelt. Wir sind in der Schweiz wieder nahe beim Punkt, wo die Meinung wieder gesellschaftsfähig wird, dass armutsbetroffene Menschen letztlich selber schuld sind an ihrer misslichen Lage.

Vierte These:
Einschneidende Ku?rzungen in der Sozialhilfe haben eine nicht zu unterschätzende Signalwirkung.

Die Sozialversicherungen sind eine einzige Baustelle. Die Geschichte der Revisionen nach den schwierigen Neunziger Jahren muss noch geschrieben werden. Doch schon jetzt lassen sich verschiedene Phasen und Versuchsanordnungen unterscheiden, um die Leistungen der Sozialversicherungen einzuschränken, wenn nicht gar abzubauen. Zuerst wurde u?ber einen direkten Leistungsabbau durch Senkung der Prozente bei den Taggeldern der Arbeitslosenversicherung debattiert. Auch bei der zweiten Säule der Altersvorsorge sollten Ku?rzungen vorgenommen werden. Beide Male fand sich keine Mehrheit fu?r diesen Ansatz. Dann kam Versuch einer Leistungsbeschränkung durch das «Herumschrauben» an einzelnen Elementen der Sozialversicherungen.
Bei der Arbeitslosenversicherung ist das zumindest teilweise gelungen, bei dem Krankenversicherungsgesetz und der AHV ist es grösstenteils missglu?ckt, bei der Invalidenversicherung wurden die Einschränkungen mit einer Zusatzfinanzierung erkauft. Seit einiger Zeit ist nun auch der Versuch zu beobachten, die Sozialversicherungen auf Autopilot (à la Schuldenbremse) zu stellen. Dies ist bereits teilweise bei der Arbeitslosenversicherung Tatsache geworden. Bei der Invalidenversicherung fand sich aber schon im Parlament keine Mehrheit fu?r diese einschneidende Massnahme. Bei der AHV schliesslich wird heftig u?ber Sinn und Unsinn dieser «Versachlichung» und «Entpolitisierung » der Altersvorsorge gestritten. Was trotz aller Revisionen bis jetzt verhindert werden konnte: eine direkte Reduktionen der Leistungshöhe. Also Ku?rzungen der Renten in der Altersvorsorge und bei der Invalidenversicherung, und die Absenkung der Prozentsätze bei den Taggeldern der Arbeitslosenversicherung. Nun droht allerdings ein Dammbruch. Wenn die angedrohten massiven Leistungsku?rzungen in der Sozialhilfe durchkommen, dann ist zu befu?rchten, dass dies auch Leistungsku?rzungen bei den Ergänzungsleistungen und den Sozialversicherungen nach sich ziehen könnte. Die argumentative Figur ist leicht zu erraten. Wenn es gelingt, die Leistungen bei der Sozialhilfe fu?r alle zu ku?rzen, dann wird das Gerede u?ber eine Opfersymmetrie beginnen. Wenn schon die Armen den Gu?rtel enger schnallen mu?ssen, warum dann nicht auch die Alten, Arbeitslosen und Invaliden? Dann sind Ku?rzungen «zumutbar» geworden.
Leider ist kaum organisierter Widerstand in den Kantonen und schon gar nicht, einen die Kantonsgrenzen u?berschreitenden Widerstand zu erkennen. Die Kämpfe werden in jeder Kommune, in jeden Kanton isoliert ausgefochten. Das mediale Feld wird fast vollständig der SVP u?berlassen. Die Linke ist in der Defensive. Die Bu?rgerlichen stehen unter dem Druck der SVP, vor allem die rechtskonservativen Kreise von FDP und CVP.

Fu?nfte These:
Die SKOS und ihre Richtlinien sind an allem schuld.

Die viel geu?bte Kritik an der SKOS erinnert an das Bild vom Sack, der geschlagen wird, obwohl man den Esel meint. Die SKOS formuliert als Fachverband Richtlinien. Sie wird als privater Verein desavouiert, der quasi in der Dunkelkammer sich ungeheuerliches ausdenkt, wie er den Armen helfen könnte, natu?rlich auf Kosten der ehrbaren Steuerzahler. Die SKOS ist ein Dachverband, in dem alle Kantone, viele Gemeinden und Städte, die grossen sozialen Hilfswerke und die involvierten Bundesämter Mitglied sind. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es ist, hier Kompromisse zu finden. Die getadelten Richtlinien von 2005 waren ein solcher Kompromiss zwischen Forderungen nach massiven Ku?rzungen der Leistungen und Erwartungen, die Sozialhilfe zu einem marktradikalen Anreizsystem umzubauen. Nur mit dem damals etablierten Hybrid konnten allzu einschneidende materielle Ku?rzungen vermieden werden. Fu?r die Kenner der Materie: Die Absenkung des Grundbedarfs um 100 Franken konnte u?ber die minimale Integrationszulage, die Integrationszulage und den Einkommensfreibetrag weitgehend kompensiert werden. Doch die SKOS kann keinem Kanton, keiner Gemeinde diktieren, was sie zu tun und zu lassen haben. In den Sozialhilfegesetzen der Kantone steht vielmehr, was Sache ist. Und da gibt es gewaltige Unterschiede in der Organisation und Zuständigkeit. Im Westen der Schweiz sind die Kantone massgebend, die Gemeinden fu?hren nur aus. Im Zentrum der Schweiz bestimmen die Kantone im Zusammenspiel mit den Gemeinden, wie die Sozialhilfe geregelt ist. Der Spielraum der Gemeinden ist unterschiedlich gross. In Zu?rich zum Beispiel sind die SKOS-Richtlinien (noch) verbindlich, in anderen Kantonen orientiert man sich «nur» an ihnen. Und im Osten haben die Kantone wenig zu bestimmen und die Gemeinden sind die relevante Instanz. Darum können die Gemeinden im Osten aus der SKOS austreten und ihre Leistungen absenken, in Zu?rich bringt das nicht viel mehr als politische Symbolik. Es u?berrascht darum auch nicht, dass hier nun auf das kantonale Sozialhilfegesetz geschossen wird.

Sechste These:
Die Kantonalisierung und Kommunalisierung der Sozialpolitik ist bei der Linken noch nicht wirklich angekommen.

In den Kantonen und Kommunen muss der Sozialstaat verteidigt werden, hier muss er auch neu gestaltet werden. Der alleinige Focus auf die Bundespolitik reicht nicht. Ein Bundesrahmengesetz zur Sozialhilfe wird es so schnell nicht geben. Der Bericht dazu liegt inzwischen zwar vor. Darin ist aber zu lesen, dass es die Kantone richten sollen, etwa mit einem Konkordat, oder dann auch wieder die SKOS, deren Richtlinien durch die Kantone als verbindlich erklärt werden sollen. Der Bund will sich ganz offensichtlich nicht stärker in der Sozialhilfe engagieren.

Wer armutsbetroffenen Menschen helfen möchte, muss sich um die Sozialhilfe ku?mmern, intensiver als bisher. Das ist Realpolitik. Wer es lieber etwas romantischer haben möchte, soll u?ber ein bedingungsloses Grundeinkommen nachdenken. Mir wäre eine Initiative lieber gewesen, die Artikel 115 der Bundesverfassung revidiert hätte – mit einem einzigen Wort! Zur Erinnerung der Wortlaut dieses Artikels.

Art. 115 Unterstu?tzung Bedu?rftiger
Bedu?rftige werden von ihrem Wohnkanton unterstu?tzt. Der Bund regelt die Ausnahmen und Zuständigkeiten.

Neu könnte es heissen:

Art. 115 Unterstu?tzung Bedu?rftiger
Bedu?rftige werden von ihrem Wohnkanton unterstu?tzt. Der Bund regelt die Leistungen und Zuständigkeiten.

Damit wäre die Basis fu?r eine Bundeskompetenz geschaffen, und fu?r ein Bundesrahmengesetz zur Sozialhilfe analog zum Gesetz u?ber die Ergänzungsleistungen.

Siebte These:
Die SODK im Auge behalten. Die SKOS ist daran, ihre Richtlinien zu u?berpru?fen.
Im Moment läuft eine Vernehmlassung. Es ist zu befu?rchten, dass sich eine Mehrheit der Kantone und Gemeinden fu?r eine Senkung der Leistungen und die Streichung der Anreize aussprechen wird. Ob die SKOS diesem Druck als Fachverband widerstehen kann, wird sich zeigen. Die Revision wird auf jeden Fall von einem «Club» abgesegnet werden mu?ssen, von dem noch gar nicht die Rede war: die SODK, die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren, also der zuständigen Regierungsräte. Natu?rlich bleiben die SKOS-Richtlinien auch dann nur Empfehlungen. Aber das Preisschild ist ein anderes, wenn die SODK dahinter steht. Das ist darum der Or t, an dem in Zukunft lobbyiert werden muss. Hier werden die sozialpolitischen Entscheide getroffen, die der Sozialhilfe die Richtung weisen werden.

Der Text basiert auf einem Referat im Rahmen eines Politischen Gottesdienstes, gefeiert am 10. April 2015 in der Wasserkirche von Zu?rich.

Carlo Knöpfel war jahrelang bei Caritas Schweiz tätig, baute dort das Kompetenzzentrum fu?r Armutsfragen auf und lehrt heute an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er hat fu?r die SGG einen bisher unveröffentlichten Vortrag umgestaltet. Er beschreibt die unter Druck geratene Sozialhilfe, welche von Gemeinden nicht willku?rlich geku?rzt werden du?rfen, weil der Staat einen verfassungsmässigen Auftrag gegenu?ber sozial Benachteiligten hat.