6. Oktober 2018

Wird von der SGG unterstützt: Nutzung des Rütli seit 1848

Martin Schaub: Das Rütli – ein Denkmal für eine Nation?
Zur Dynamik des kollektiven und individuellen Umgangs mit dem Rütli als Denkmal, Mythos und Ritual seit der Bundesstaatsgründung.

Martin Schaub: Das Rütli – ein Denkmal für eine Nation?
Zur Dynamik des kollektiven und individuellen Umgangs mit dem Rütli als Denkmal, Mythos und Ritual seit der Bundesstaatsgründung.
Hep Verlag, Zürich 2018
632 Seiten, CHF 59.00
ISBN 978-3-035511314

Die von der SGG unterstützte Dissertation von Martin Schaub zeigt auf, dass und inwiefern das Rütli als Denkmal ein Ort des informellen Geschichts-Erlebens und -Lernens ist. Schaub untersucht nicht die genaue Historie des Orts, sondern ihre Gebrauchsgeschichte, also die Wirkung des Rütli auf die Besucherinnen und Besucher seit 1848. Der Autor untersucht sowohl die Motive der individuellen Besucherinnen und Besucher wie auch die Beweggründe und Umstände der Gruppen und Grossanlässe an der „Wiege der Eidgenossenschaft“. Schaub zeigt auch auf, wie sich das Narrativ des Rütli in den letzten 170 Jahren entwickelt und gewandelt hat und mit welcher Wirkungsabsicht der Schauplatz des Gründungsmythos inszeniert wurde und wird.

Weil sich die untersuchte Zeitspanne (1848 bis heute) beinahe mit der Verwaltung durch die SGG (seit 1860) deckt, gibt Schaubs Dissertation auch ein Stück SGG-Geschichte wieder. So kaufte die SGG anno 1859 das Rütli nicht bloss, um geplante touristische Bauten am Urnersee zu verhindern. Nach dem Sonderbundskrieg von 1847 suchte der junge Bundesstaat nach symbolträchtigen Gesten der Versöhnung mit den unterlegenen Ständen. Der Kauf des Rütli durch die liberale SGG anno 1859 und das Geschenk an den Bund anno 1860 bildeten die stärkste Kohäsions-Geste jener Zeit. Das Rütli stand bis zum Kauf durch die SGG für die alte Eidgenossenschaft, mit der sich viele Kantone nicht identifizierten. Gerade weil der Bundesstaat von 1848 kein Denkmal und keinen Gedenktag besass, sollte mit der Einrichtung des Rütli ein Nationaldenkmal geschaffen werden, das den neuen Bundesstaat legitimieren und die nationale Identität stiften sollte. Das Rütli und später auch die Bundesfeier vom 1. August sollten bewusst dem Zusammenhalt der modernen Schweiz dienen. Die SGG sammelte für den Kauf des Rütli im Jahr 1858 rund 95‘000 Franken, vorwiegend in den reformierten Stadtkantonen Zürich und Bern. Diese Summe entspricht heute rund 4 Mio. Franken. Die Liegenschaft selbst kostete 55‘000 Franken. Mit den übrigen 40‘000 Franken hat die SGG das Rütli historistisch und hypernatürlich neu konstruiert. Das Rütli sollte künftig den natürlichen, ursprünglichen und damit mittelalterlichen Zustand darstellen. Das Rütlihaus wurde gemäss Schillers Tell-Drama in ein Schweizer Urhaus verwandelt und die unbewaldete Weidelandschaft mutierte in eine Alpenwiese mit einem Wegnetz. Das Schwurplatz-Monument erhielt mit den drei Quellen einen quasi-biblischen Charakter. Und in den wehenden Schweizerfahnen auf der Rütliwiese und am Schiffsteg verschmilzt die Metapher mit dem Ort. Der SGG hat in den letzten 170 Jahren wiederholt erfolgreich verhindert, dass auf dem Landschaftsdenkmal keine weiteren Denkmale beherbergt wurden. Das Denkmal für die Schöpfer des Rütlilieds liess die SGG entfernen, und auch die Errichtung eines Denkmals für General Guisan lehnte die SGG rigoros ab.

Eine positive Koinzidenz stellt auch die Tatsache dar, dass das Buch just an dem Tag (30.8.2018) präsentiert wurde, als die Lern-App „SQWISS“ online ging. Diese informiert an 9 Rätsellöchern über die Geschichte des Rütli und der Schweiz. Und kaum ein Monat zuvor, am 1. August, eröffnete Bundespräsident Alain Berset auf dem Rütli das „Musée Grütli“, das kleinste Museum des Landes, das mit Ausstellungen relevante Schweizer Themen vermitteln soll. Das Rütli als „Erlebinsraum“, bestehend aus einem begehbaren Landschaftsdenkmal, einem Multi-Mythos und zahlreichen individuellen wie auch kollektiven Ritualen, wurde just mit der Veröffentlichung der Doktorarbeit zum Erlebnisraum 2.0.