21. April 2016
Sozialhilfe ist kein Gnadenakt
Herr Schmid, Sie sind quasi der «Mister Switzerland» des Sozialbereichs, haben 15 Jahre lang die SKOS präsidiert, leiteten die Schweizer Flüchtlingshilfe, waren Projektleiter der geplanten Solidaritätsstiftung und waren bis vor kurzem Direktor der Hochschule Luzern für Soziale Arbeit. Sie wissen, wem zwischen Rorschach, Genf und Lugano wie stark der Schuh drückt. Wie nehmen Sie heute Armut in der reichen Schweiz wahr, wenn Sie mit 1980 oder noch früher vergleichen?
Im Gegensatz zu früher wird Armut heute fast ausschliesslich als Versagen einer einzelnen Person verstanden. Sie oder er hat es nicht geschafft. Und je mehr der Wohlstand für einen Teil der Bevölkerung wächst, umso mehr sucht man die Ursache für das Versagen beim Individuum. Es gibt nur mehr Wenige, die die strukturellen Ursachen der Armut thematisieren. Zum Beispiel die mangelhaften Leistungen für einkommensschwache Familien, was erklären könnte, weshalb jedes zehnte Kind in der Schweiz von der Sozialhilfe lebt. Oder das Faktum, dass über Fünfzigjährige, die arbeitslos werden, kaum mehr in die Arbeitswelt zurückfinden. Wir kennen die verzweifelten Menschen, die gerne wieder arbeiten würden, aber keinen Job mehr bekommen und sich von der Gesellschaft im Stich gelassen fühlen.
Wie fördert man die Anstellung von Personen über 50? Durch gesetzlichen Zwang oder durch steuerliche Anreize oder durch Coaching- und Mentoring-Programme, die effektiver sind als jene, die von den RAV angeboten werden? Oder sind Sozialfirmen wie die Dock Gruppe die Lösung?
Durch gesetzliche Anpassungen lassen sich zunächst einmal bestehende Fehlanreize beheben. So sollten die Soziallasten für die Arbeitgeber in den oberen Altersklassen nicht zunehmen, sondern abnehmen. Auch steuerliche Anreize wären zu prüfen. Gewerkschaften und Arbeitgeber sollten lernen, dass Löhne nicht wie ein Naturgesetz linear mit dem Alter steigen müssen und so die Lohnkosten älterer Arbeitnehmer überteuert. Vor allem aber braucht es innovative Sozialpartner, welche neue Arbeitszeit- und Beschäftigungsmodelle entwickeln und Win-win-Situationen schaffen. In den letzten zehn Jahren haben zwar alle davon geredet, dass es bald zu einem Mangel an Fachkräften kommen werde. Den betroffenen Stellenlosen über 50 hat dies aber herzlich wenig genützt.
Sie präsidierten die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe, die SKOS. Die Richtlinien der SKOS sind nicht verbindlich, sie haben keine demokratische Legitimation und darum eher Empfehlungscharakter. Viele Gemeinden halten sich nicht an die SKOS-Richtlinien, sondern definieren das Existenzminimum eigenmächtig und haben die Beiträge für Wohnkosten seit Jahrzehnten nicht mehr angepasst. Manche Gemeinden wimmeln Sozialhilfebeziehende geradezu ab, andere zwingen Sozialhilfebeziehende zum Umzug in billigere Wohnungen, bezahlen aber nichts, wenn durch den raschen Umzug für 1-2 Monate doppelte Mieten entstehen. Natürlich haben es die Bürgerinnen und Bürger in der Hand, sozialere Gemeinderäte zu wählen. Gibt es aber noch andere Lösungen, um zu vermeiden, dass Gemeinden den Sparhahn vor allem in der Sozialhilfe ansetzen?
Sie sprechen hier gleich eine Vielzahl von Problemen an. Die Harmonisierung der Sozialhilfestandards in der Schweiz ist ein sehr altes Postulat. Die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) haben in den vergangenen Jahrzehnten für einen gewissen Ausgleich sorgen können. Letztlich liegt aber die Hoheit über die Sozialhilfe gemäss Verfassung bei den Kantonen, die wiederum den Gemeinden Spielräume offenlassen. Ob SKOS oder SODK (Konferenz der Sozialdirektionen der Kantone), es bleibt bei Empfehlungen. Und die jüngste Entwicklung im Kanton Bern, welcher die eben beschlossenen Richtlinien unterlaufen will, zeigt die begrenzte Wirkung solcher Empfehlungen. Gerade schwache Exekutivmitglieder sind zudem versucht, beim Thema Sozialhilfe populistischen Strömungen nachzugeben und auf Harmonisierungsbemühungen unter den Kantonen keine Rücksicht zu nehmen. So bleibt wohl nur eine Bundeslösung, auch wenn das Parlament eine solche kürzlich wieder abgelehnt hat. Die Tendenz, Sozialhilfeempfänger abzuschieben, hat weniger mit den Richtlinien zu tun, sondern ist der Versuch, Gesuche gar nicht entgegen nehmen zu müssen oder den Menschen in der Sozialhilfe das Leben madig zu machen, so dass sie von selber gehen. Ich finde ein solches Verhalten besonders betrüblich. Selbstverständlich soll man auch in der Sozialhilfe haushälterisch mit den Mitteln umgehen. Mit einem gerechten Lastenausgleich könnte man immerhin vermeiden, dass einzelne Gemeinden besonders unter Druck kommen und den Schwarzen Peter ziehen.
Armut wird in der Schweiz oftmals nicht bekämpft, sondern nur verwaltet. Die meisten Gemeinden bezahlen keine Aus- und Weiterbildungen oder Fahrstunden, wodurch die Chance wachsen würde, aus der Nothilfe herauszukommen und in die Arbeitswelt integriert zu werden. Wie könnte die Professionalität und Nachhaltigkeit gesteigert werden? Regionalisierung der Sozialfachstellen analog zur KESB, welche die kommunalen Vormundschaftsbehörden abgelöst haben? Oder wäre eine verpflichtende Grundausbildung in Sozialer Arbeit für kommunale SozialvorsteherInnen und SachbearbeiterInnen im Sozialamt die Lösung?
Zum Glück gibt es auch die anderen Gemeinden, wo Fachleute und Behörden erfahren haben, dass sich Investitionen in Menschen lohnen, wenn diese dafür aus der Sozialhilfe herauskommen. Wichtig ist, dass die Leute an der Front über die nötigen professionellen Qualifikationen verfügen. Deshalb ist gerade kleineren Gemeinden ohne Sozialdienst der Zusammenschluss mit anderen zu empfehlen.
Dadurch, dass die Gemeinden die Art und Höhe der Sozialhilfe bestimmen, wird de facto das Prinzip der Rechtsgleichheit verletzt. Denn je nachdem wo die Sozialhilfebeziehenden leben, sind der Grundbedarf und die Freibeträge unterschiedlich hoch festgelegt. In einigen Kantonen erhalten Familien Ergänzungsleistungen. Und je nach Kanton und Gemeinde müssen Sozialhilfebeziehende ihre Zahnarztrechnungen teilweise selbst bezahlen und die erhaltene Sozialhilfe früher, später oder gar nicht zurückzahlen. Die Städte-Initiative Sozialpolitik und die SKOS plädieren für ein Sozialhilfe-Rahmengesetz auf Bundesebene, der Schweizerische Gemeindeverband könnte sich ein kantonales Konkordat vorstellen. Künftig wird die SODK zentrale Änderungen bei den Richtlinien verabschieden. Wie können wir fortan die Rechtsgleichheit landesweit garantieren? Welche Lösungen sehen Sie, auf die wir nicht Jahrzehnte warten müssten?
Zum Teil sind die Rechtsungleichheiten tatsächlich stossend. Allerdings ist es der Preis des Föderalismus, dass er zu gewissen Ungleichheiten führt: bei den Steuern, den Prämienverbilligungen, der Gesundheitsversorgung, den Krippentarifen und vielem mehr. So ist immer zu fragen, ob und mit welcher Begründung sich Ungleichheiten rechtfertigen lassen. In der Sozialhilfe sehe ich keine einleuchtenden Gründe ausser bei den Krankenkassenprämien und Wohnkosten, die örtlich verschieden sind. Was aber den Grundbedarf, allfällige Zulagen und die Übernahme von ausserordentlichen Kosten betrifft, gibt es meines Erachtens keine Gründe. Im Gegenteil: Die Verfassung verlangt in vergleichbaren Situationen die Gleichbehandlung. Da ein Bundesgesetz wieder in Ferne liegt und wohl auch ein kantonales Konkordat ein Jahrhundertvorhaben werden könnte, bleibt als Hoffnung die Rechtsprechung, welche wenigstens die grössten Unterschiede ausgleichen könnte.
In der Schweiz sind rund 9% arm. Im Jahr 2014 bezogen 261’983 Personen Sozialhilfe. Die Sozialhilfe wird vor allem aus den Steuern finanziert. Welche alternativen Finanzierungsmodelle halten Sie für notwendig und realistisch umsetzbar? Braucht es eine Besteuerung von Finanztransaktionen, Energie und Konsum? Ist das Grundeinkommen die Lösung? Oder kommen wir nicht darum herum, dass die einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner wieder mehr Verantwortung für sich selbst und für ihre Kinder, Geschwister, Eltern und Grosseltern übernehmen?
Ich bin der Auffassung, dass schon heute sehr viele Menschen für ihre Angehörigen und Nächsten Verantwortung übernehmen. Die hohe Nichtbezugsquote, also Leute, die kein existenzsicherndes Einkommen haben und trotzdem auf Sozialhilfe verzichten, deutet darauf hin, dass Solidarität zwischen den Angehörigen, den Generationen und Freunden kein leeres Wort ist. Dass die Sozialhilfe über Steuern finanziert wird, sehe ich nicht zwingend als Nachteil. Im Gegensatz zur IV oder der ALV, die gelegentlich wieder unter grossen Opfern saniert werden müssen, sind die Ausgaben der Sozialhilfe Teil der ordentlichen Budgets. Viel vom politischen Druck könnte man wegnehmen, wenn die Sozialhilfe nicht kommunal, sondern kantonal finanziert würde. Das zeigen die Kantone der Westschweiz, in denen die Sozialhilfe weniger skandalisiert und politisiert wird. Da die Sozialhilfe nur drei Prozent der Sozialausgaben insgesamt ausmachen – viele Leute sind sich des geringen Anteils der Sozialhilfe am Sozialaufwand nicht bewusst – wird sie nicht den Ausschlag geben für die Finanzierungsmodelle, die unsere Gesellschaft in Zukunft braucht.
Armut wird nicht selten von einer Generation zur nächsten vererbt. Wie lautet das Zauberwort?
Ich habe das Bild von der Vererbung nicht gerne. Auch wenn es nur ein Bild ist, erweckt es den Eindruck, bei der Armut handle es sich um etwas Genetisches. Und diese Debatte hatten wir auch schon. Vielmehr spreche ich von einer Verfestigung der Armut, die sich tatsächlich über die Generationen einstellen kann. Wer Arbeit nur vom Hörensagen her kennt, weil niemand in der Familie je Arbeit hatte, läuft ein grosses Risiko, selber arbeitslos zu werden. Es geht also um die Durchbrechung der Perspektivenlosigkeit. Die ist es, welche den Eindruck der Unentrinnbarkeit erweckt und entsprechend das Handeln prägt. Perspektiven und Chancen öffnen! Das ist das Zauberwort.
Was möchten Sie zum Schluss noch sagen, was für eine gerechte und solidarische Schweiz wichtig wäre?
Ich wünschte mir ein Land, in dem neben Sparen und Wettbewerb noch andere und wichtigere Themen Platz haben.