9. September 2020
SGG-Vizepräsident Heinz Altorfer tritt ab
Heinz Altorfer, du bist 2005 in den Vorstand der SGG gewählt worden. Welches war deine Motivation JA zu sagen? Und was sagte dein Arbeitgeber dazu?
Eigentlich stand ich schon seit 1992 im Kontakt mit der SGG. Ich war engagiert in einem Projekt, das dann später unter dem Namen «SeitenWechsel» segelte. Durch meine berufliche Arbeit im Migros-Kulturprozent als Leiter Soziales stand ich überdies schon viele Jahre im Kontakt mit dem damaligen SGG-Geschäftsleiter Herbert Ammann und wir pflegten auch Kooperationen als inhaltlich einander nahestehende Institutionen, vor allem mit gemeinsamen Veranstaltungen und der Lancierung des Freiwilligenmonitors. So kam ich auch immer stärker in Kontakt mit den Gremien und mit der damaligen Präsidentin der SGG, Judith Stamm. Schliesslich wurde ich von Herbert Ammann bei einem Glas Wein für den Vorstand angefragt. Ich sagte zu, weil ich mich mit den Inhalten der SGG sehr gut identifizieren konnte und auch die institutionelle Zusammenarbeit zwischen SGG und Migros-Kulturprozent spannend fand. Weil Kooperationen in meiner Arbeit zum Arbeitsprinzip gehörten, fragte ich auch nie jemanden um Erlaubnis für dieses Engagement, das ja weit über meine berufliche Arbeitszeit hinausging.
Als du in die SGG eingestiegen bist, gingen gerade die Wellen hoch mit den Rechtsextremen auf dem Rütli. Wie hast du diese Zeit erlebt?
Das hatte etwas Unwirkliches. Hier die gemeinnützige und vaterländische Organisation mit den edlen Motiven, dort die etablierte rechtsextreme Szene, die das Rütli instrumentalisierte, um eine öffentlich wirksame Plattform für ihre Aktionen zu haben. Ich stand nicht an vorderster Front bei diesen Auseinandersetzungen, welche sehr viele Ressourcen der SGG band. Da waren die Präsidentin als Politikerin, die Juristen, ein externer Kommunikationsberater (und späterer Vorstandskollege Martin Hofer) sowie der Geschäftsleiter mit seinen profunden Kenntnissen dieser Szene gefragt. Ich war froh um deren Engagement, denn meine Kompetenzen lagen nicht in dieser aktuellen Krisenbewältigung.
Du warst der wesentliche Motor für die SGG-eigenen Programme SeitenWechsel, Job Caddie und Intergeneration. Dass die SGG nicht nur eine Förderorganisation ist, sondern eine operative NGO, ist weitgehend Dein Verdienst. Wie beurteilst du diese Entwicklung aus heutiger Sicht?
Der Wahrheit zuliebe: Da gab es natürlich noch viele andere «Motoren» für diese Programme. Aber ich war überzeugt, dass Taten eine viel stärkere Wirkung nach aussen hatten als blosse Worte. Darum habe ich mich von Beginn weg für Projektarbeit eingesetzt – im Vorstand, aber auch in der Begleitung der operativ tätigen Mitarbeitenden. Als Sozialwissenschaftler mit vielfältigen beruflichen Erfahrungen der Projekt- und Förderarbeit konnte ich einiges einbringen. Projektarbeit ist für mich auch heute noch eine wesentliche Erfolgsstrategie für NGOs. Viele Entwicklungen können nur in Gang gesetzt werden, wenn man etwas konkret umsetzt, Menschen mitnimmt und inspiriert und nicht nur über Themen redet. Das stärkt auch die Reputation der SGG: die Mischung von Thinktank, Förderinstitution und Macherin hebt sie so von anderen NGOs oder Stiftungen ab.
Als ehemaliger Leiter des sozialen Bereichs von Migros-Kulturprozent, als Mitglied der Schweizerischen Unesco-Kommission, als Vize-Präsident der Stiftung Stapferhaus Lenzburg und als Vizepräsident der Exekutive der Röm.-kath. Landeskirche Aargau sowie als Motor der «Stimme Q» für frühkindliche Erziehung hast du dich schon mit sehr vielen sozialen Themen und Bildungsfragen befasst. Für welches Thema brennt dein Herz speziell?
Mein Herz brennt in der Regel immer dort, wo ich mich gerade engagiere. Bestimmend sind dabei nicht nur die Themen, sondern die Menschen, die sich mit engagieren. Die meisten gesellschaftlichen Themen und Problemlagen haben einen inneren Zusammenhang. Darum will ich nicht Spezialist für irgendeine Klientel sein, sondern diese Zusammenhänge in den Blick nehmen. Eine Politik für die frühe Kindheit hat beispielsweise viel mit Armutsbekämpfung und Integration zu tun. Bildung hilft der einzelnen Person, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Solidarität über Generationen hinweg schafft Gerechtigkeit usw.
Du kennst die Schweizer Stiftungslandschaft und die Förderorganisationen wie deine Westentasche. Jährlich vergeben sie zusammen rund zwei Milliarden Franken. Wir würdest du diese Summe verteilen, wenn du die Möglichkeit dazu hättest?
Ich habe ziemlich Respekt davor, was die Stiftungen und Förderorganisationen heute Sinnvolles und Wirksames tun. Sie tragen eine grosse gesellschaftliche Verantwortung. In meiner Wahrnehmung hat sich die Förderarbeit in den letzten 20 Jahren erheblich professionalisiert. Dennoch kann sie nie alle Bedürfnisse abdecken. Um nachhaltige Lösungen müssen sich Staat und Zivilgesellschaft gemeinsam kümmern. Daher würde ich in Zukunft vermehrt Mittel da einsetzen, wo die NGOs den Staat, die einzelnen Bürgerinnen und Bürger sowie die Zivilgesellschaft mit in die Pflicht nehmen. Und ich würde der Tatsache Rechnung tragen, dass sozialer Wandel praktisch nie von top-down-Strategien, sondern durch die Kommunikation und das kooperative Verhalten von Menschen und Organisationen gelenkt werden, die zusammen die gesellschaftlichen Herausforderungen angehen wollen. Hier würde ich besonders fördern.
Du bist ein Netzwerker und engagierter Schaffer, pilgerst aber auch jedes Jahr wochenlang allein auf dem Jakobsweg. Welches ist deine persönliche Meinung zum berühmten Paar Mystik & Politik, Kontemplation & Aktion, Spiritualität & soziales Engagement, Weg nach innen & Weg nach aussen?
Die meisten Menschen ahnen ja, woher sie die Energie für ihr Aktivsein beziehen. Ich tue es, indem ich bei all dieser verrückten Komplexität der Welt immer wieder die Einfachheit mit mir selbst suche, die Chancen für Begegnungen annehme und den Sinnhorizont über das Faktische und Reale hinaus erweitere. Ohne diese Bezüge würde ich mich vermutlich in einem Aktivismus verlieren und letztlich ausbrennen. Bisher habe ich das einigermassen geschafft und bin zuversichtlich, dass das auch in Zukunft ein vernünftiger Weg sein wird.
Wenn du im Dezember 2020 den SGG-Vorstand verlässt, kannst du weit über 100 Stunden jährlich anders verwenden. Kommen diese dem Pilgern, den Enkeln, Deiner Frau Monika oder neuen Engagements zugute?
Tja, da muss ich wohl den Prozentrechner hervorholen. Im Ernst, ich weiss es nicht und will es auch nicht planen. Diese zunehmende Freiheit, sich von Gelegenheiten, Herausforderungen, eigenen Bedürfnissen, solcher der Familie oder Anderer lenken zu lassen, finde ich faszinierend. Der Mix macht es aus – wie früher schon.
Lieber Heinz, im Namen vieler Menschen, die mit dir in fast 30 Jahren im Kontext der SGG unterwegs waren, danke ich dir im Namen der SGG sehr herzlich für dein aussergewöhnliches Engagement. Mit Leidenschaft und Herzblut, Kompetenz und Klugheit, Offenheit und Herzlichkeit hast du der SGG auf allen Ebenen viel geschenkt. Wir wünschen dir noch zahllose Schritte in Richtung Spanien und weiterhin viel Energie und Lebensfreude.