7. Mai 2016

Interview mit Rechtsprofessor Bernhard Ehrenzeller

Heute hätte es die Verfassung an der Urne schwer
Prof. Bernhard Ehrenzeller hat die Entstehung der Bundesverfassung von 1999 aus der Näge begleitet und geprägt. Die SGG setzt sich für den neuen Nationalhymne-Text ein, der auf der Verfassungspräambel basiert. Darum wollten wir vom Spezialisten seine Meinung zu diesem Projekt erfahren.

Heute hätte es die Verfassung an der Urne schwer
Prof. Bernhard Ehrenzeller hat die Entstehung der Bundesverfassung von 1999 aus der Näge begleitet und geprägt. Die SGG setzt sich für den neuen Nationalhymne-Text ein, der auf der Verfassungspräambel basiert. Darum wollten wir vom Spezialisten seine Meinung zu diesem Projekt erfahren.

Herr Professor Ehrenzeller, Sie haben die Entstehung der neuen Bundesverfassung und ihrer Präambel hautnah miterlebt und mitgeprägt. Welches war genau Ihre Aufgabe? Und wie erlebten Sie den Entstehungsprozess aus nächster Nähe?

Als Persönlicher Mitarbeiter von Bundesrat Arnold Koller konnte ich die Arbeiten zur Totalrevision der Bundesverfassung aufs Engste begleiten und daran mitwirken, beginnend mit der Konzipierung der Verfassungsreform im Jahre 1993 bis zu den parlamentarischen Beratungen in den Jahren 1996-1998. Das ganze Vorhaben der Verfassungsreform war so angelegt, dass zwar das Bundesamt für Justiz und verschiedene Expertenkommissionen unterschiedliche Teilaufgaben zu erfüllen hatten, doch Bundesrat Koller nahm persönlich die Gesamtleitung wahr. Nach den Erfahrungen mit dem gescheiterten Totalrevisionsentwurf der 70er Jahre (Verfassungsentwurf Furgler) war klar, dass der Präambel einer neuen Bundesverfassung in der politischen Diskussion grosse Bedeutung zukommen sollte. Bundesrat Koller sparte deshalb den Entwurf einer Präambel vorerst von den Arbeiten am Text der neuen Verfassung aus und übertrug diese Aufgabe dann bewusst einem Bundeshausjournalisten aus der Romandie (Daniel S. Miéville). Auch die Übersetzung des französischen Originaltextes ins Deutsche und Italienische besorgte nicht die Verwaltung, sondern Claudia Schoch, damalige Redaktorin bei der NZZ, und Achille Casanova, damaliger Vizekanzler des Bundes. Dieses unübliche Vorgehen hat sich in diesem Fall bewährt. Der Präambeltext hat in den parlamentarischen Beratungen wie auch im Rahmen der Volksabstimmung breiten Raum eingenommen und ist auf positives Echo gestossen. Die Akzeptanz der neuen Verfassung im Volk ist dadurch sicher erhöht worden. Die vielleicht grösste Herausforderung bei der Formulierung der Präambel war die Erfassung der Beziehung der Schweiz nach aussen, nachdem ja die alte Bundesverfassung ganz innengerichtet war. Wir waren sehr gespannt, wie Herr Miéville diese heikle Aufgabe lösen würde. Indem er die Erneuerung des Bundes in eine dialektische Beziehung von innen und aussen gesetzt hat, ist es ihm gelungen, ein grundlegendes und nicht zu umgehendes Spannungsverhältnis der heutigen Schweiz anzusprechen, ohne dabei eine politisch zu kontroverse Festlegung, vor allem in der Europafrage, vorzunehmen. Nicht alle waren und sind von diesem „Kompromiss“ begeistert.

Das Parlament einigte sich schliesslich auf folgenden Präambeltext:

«Im Namen Gottes des Allmächtigen!
In der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,
im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,[nbsp]
im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,
im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,
gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht,
und gewiss, dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen…

Welche Textstellen waren Ihnen damals besonders wichtig – und sind es noch heute?

Ich hielt und halte auch heute die Formulierung „im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken“ für sehr gelungen, ja angesichts der jüngeren politischen Diskussionen im Zusammenhang mit einzelnen Volksinitiativen für wegweisend. Doch auch andere Stellen überzeugen mich nach wie vor, etwa der Anspruch, „in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben“, was ja bewusst mehr bedeutet als ein blosses Toleranzgebot.

Die SGG hat 2014 einen Künstlerwettbewerb für einen neuen Nationalhymne-Text durchgeführt. Die Präambel der Bundesverfassung bot die textliche Grundlage für die insgesamt 208 eingereichten Wettbewerbsbeiträge. Der Siegerbeitrag des Zürcher Gesundheitsökonomen Werner Widmer, den er zur heutigen Hymnemelodie von Alberik Zwyssig formuliert hat, lautet:

Weisses Kreuz auf rotem Grund,
unser Zeichen für den Bund:
Freiheit, Unabhängigkeit, Frieden.
Offen für die Welt, in der wir leben,
woll’n wir nach Gerechtigkeit streben.
Frei, wer seine Freiheit nützt,
stark ein Volk, das Schwache stützt.
Weisses Kreuz auf rotem Grund
singen alle wie aus einem Mund.

Dieser Text lehnt sich teilweise wörtlich an die Präambel an. Was halten Sie grundsätzlich von der Idee, die Präambel als Leitbild der heutigen Schweiz in die Nationalhymne zu integrieren? Und wie beurteilen Sie diese konkrete Umsetzung der Präambel von Werner Widmer?

Es ist der Sinn der Präambel, gewissermassen der Ouvertüre zur Verfassung, die grundlegende Staatsidee der heutigen Schweiz, die gemeinsam getragenen Werte und Ziele in einer sich verändernden Welt widerzuspiegeln. So gesehen sollte eigentlich dieses Grundverständnis auch in einer zeitgemässen Nationalhymne aufleuchten. Es gibt kaum andere aktuelle Texte, die das schweizerische Staats- und auch Gesellschaftsverständnis in so prägnanter und überzeugender Weise zum Ausdruck bringen. Eine Orientierung an der Präambel macht deshalb Sinn. Es liegt nicht an mir, das Siegerprojekt zu beurteilen. Herr Widmer hat offensichtlich das gleiche Ziel verfolgt wie Herr Miéville, nämlich Tradition (z.B. Melodie der alten Hymne) mit dem modernen Staatsbild der Schweiz zu verbinden. Die Formulierung einer Verfassungspräambel und die Erarbeitung eines Textes für die Nationalhymne sind zwar eine recht unterschiedliche Herausforderung und Aufgabe, aber die Grundidee deckt sich im Kern.

Der Autor der vielleicht künftigen Nationalhymne ist persönlich religiös, verzichtete aber in seinem Hymnetext bewusst auf die explizite Anrufung Gottes. Er findet es (gemäss Matthäus 7,21) wichtiger, mit den Werten der Präambel Gottes Wille konkret zu realisieren als Gottes Namen anzurufen. Weiter argumentiert Widmer, dass die Schweiz ein religiös neutrales Land sei mit einer Bevölkerung, in der sich rund 30% nicht auf einen personalen Gott berufe. Wie beurteilen Sie den religiösen Gehalt im Hymnetext von Werner Widmer mit der zweimaligen Erwähnung des weissen Kreuzes und mit den vom Christentum stark geprägten Werten?

Die Beibehaltung des traditionellen Gottesanrufes der Eidgenossenschaft war von erheblicher Bedeutung für die Annahme der neuen Bundesverfassung. Das haben die „Volksdiskussion“ und die parlamentarischen Beratungen deutlich aufgezeigt. Der Text des Siegerprojektes verzichtet auf diesen Traditionsanschluss, nimmt aber doch auf die christliche Prägung unseres Landes Bezug mit der Wortwahl „weisses Kreuz auf rotem Grund“. Herr Widmer versucht dabei einen Ausweg aus einem Dilemma, das wir im Rahmen der Verfassungsreform als letztlich unlösbar betrachtet haben. Entweder man behält die althergebrachte Formel bei, die viel Interpretationsspielraum belässt und niemanden zu einem bestimmten Gottesbekenntnis zwingt, oder man verzichtet vollständig auf eine irgendwie geartete zivilreligiöse Bezugnahme. In einzelnen neueren Kantonsverfassungen sind alternative Formulierungen (z.B. in Verantwortung vor…) enthalten, doch diese überzeugten weder Bundesrat noch Parlament. Ich teile diese Haltung. Der Text von Werner Widmer wird wohl keine Seite zufrieden stellen, weder jene, die den traditionellen religiösen Traditionsanschluss der Verfassung vermissen noch jene, die keinerlei religiöse Anspielung wollen.

Der Hymne-Autor Werner Widmer hat ins Zentrum seines Textes den Begriff Gerechtigkeit gestellt, obwohl dieser Begriff in der Präambel nur in der französischen Übersetzung wörtlich vorkommt. Der Autor begründet diese Wortwahl damit, dass letztlich die gesamte Bundesverfassung auf eine gerechte Gesellschaft hin ausgerichtet sei. Welchen Stellenwert hat die «Gerechtigkeit» in der Bundesverfassung von 1999 und für unsere Gesellschaft?

Der Begriff der „Gerechtigkeit“ kommt in der deutschen Fassung der Bundesverfassung nicht vor, wohl aber das Adjektiv „gerecht“, etwa im Zusammenhang mit „gerechten internationalen Ordnung“ (Art. 2 BV). Der Verfassungsgeber hat weitgehend und bewusst auf die Aufnahme von Begriffen verzichtet, die einen kaum eingrenzbaren rechtlichen Bedeutungsgehalt haben. Dass es dabei unterschiedliche sprachliche Akzentsetzungen gibt in den drei gleichwertigen Fassungen der Präambel, war durchaus gewollt. Insgesamt ist jedoch darauf geachtet worden, das Gerechtigkeitsgebot in den konkreten Verfassungsbestimmungen umzusetzen, etwa im Willkür- und Diskriminierungsverbot oder im Gleichbehandlungs- und im Verhältnismässigkeitsprinzip. Das mindert keineswegs den Stellenwert des – unbestrittenen – Gerechtigkeitsanspruchs an den Staat. Art. 5 BV hält fest, dass das Recht Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist. Recht und Gerechtigkeit sind nicht zu trennen, weder für den Gesetzgeber und die Exekutive noch für Richter.

Wenn man die Präambel der Bundesverfassung in den vier Landessprachen nebeneinanderhält und vergleicht, fallen einem neben der Gerechtigkeit in der französischen Version noch weitere Besonderheiten auf: In der italienischen Übersetzung steht beispielsweise ein Zusatz, der in allen anderen Sprachen erst im Artikel 2 folgt: „risoluti a consolidarne la coesione interna”. Vermutlich sind aber nicht nur die Tessiner entschlossen, den inneren Zusammenhalt im Land zu stärken. Welche Elemente und Massnahmen finden Sie besonders wichtig für den Zusammenhalt in der Schweiz?[nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp] [nbsp]

Es war – gerade nach dem negativen EWR-Entscheid im Jahre 1992 – das staatspolitische Kernanliegen der Verfassungsreform, die verschiedenen politischen Gräben zu überwinden und den inneren Zusammenhalt des Landes zu stärken. Das, was die Schweiz ausmacht – Demokratie und Rechtsstaat, Föderalismus und Solidarität, Unabhängigkeit und Konkordanz –, sollte damals wachgerufen und neu ins nationale Bewusstsein gehoben werden. Leider sind in der Zwischenzeit die verschiedenen inneren Spannungen grösser und die politische Polarisierung des Landes stärker geworden. Heute hätte es die neue Bundesverfassung schwer in einer Volksabstimmung. Es war ein politischer Glücksfall, den richtigen Moment für die Akzeptanz in Parlament, Kantonen und Volk gefunden zu haben. Es ist ja nicht so, dass die angesprochenen Identitätsmerkmale der Schweiz heute in Frage gestellt wären. Doch deren innerer Zusammenhang hat sich verschoben. Einzelne Leitprinzipien wie etwa die Demokratie oder die Unabhängigkeit werden von massgeblichen politischen Kräften verabsolutiert. Volksrechte werden teilweise zweckentfremdet zur Herstellung neuer politischer Mehrheiten. Die Konkordanz hat, als Grundübereinstimmung der politischen Kräfte, an Stellenwert eingebüsst. Ich bedaure diese Entwicklung sehr, denn sie unterspült die – keineswegs mehr selbstverständliche – Kohäsion der Schweiz.

Bernhard Ehrenzeller war 1991?1997 Persönlicher Mitarbeiter von Bundesrat Arnold Koller im EJPD. 1997?1998 vertrat er das EJPD als Experte in der Verfassungskommission von National- und Ständerat. Seit 1997 ist er Ordinarius für Staats? und Verwaltungsrecht an der Universität St. Gallen, seit 1998 Direktor am dortigen Institut für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis (IRP?HSG).

Das Interview führte Lukas Niederberger