16. September 2022

Stiftungen sollen Pionierinnen sein und Lücken schliessen

Dies ist ein Ausschnitt des Referates von Nicola Forster am 30. August 2022 am Basler Stiftungstag. Sie können das ganze Referat hier herunterladen (PDF)

«Corona, Krieg und Klimakrise: Wie erhalten wir Zusammenhalt und Demokratie?»

Noch nie in meinem Leben habe ich so viele Ereignisse erlebt, die unsere bisherige Realität fundamental in Frage stellen. Corona hat existentielle Fragen zur Gesundheit, Solidarität und dem Zusammenleben in unserer Gesellschaft aufgeworfen. Der Angriffskrieg auf die Ukraine stellt die seit dem Fall der Berliner Mauer selbstverständlichen geopolitischen Verhältnisse auf den Kopf und drängt uns unangenehme Fragen zur Sicherheitspolitik, vorhandenen Ressourcen und Flucht auf. Und die Klimakrise lauert im Hintergrund, lässt ganze Landstriche austrocknen und tickt wie eine Bombe, die ein Risiko für unsere gesamte Lebensgrundlage darstellt.

Oder ist das nur subjektiv? War es nicht immer schon so, dass gewichtige Krisen die Biografien der Zeitgenoss:innen prägten und dann mit viel Pathos behauptet wurde, dass sie in einem «Zeitalter der Krisen» leben würden – genau so, wie ich das hier für unsere Zeit tue? Dazu kommt, dass wir uns in der Schweiz eher gewohnt sind, dass nichts passiert.

Probleme identifizieren und gemeinsam anpacken

Nicht unbedingt die Beschaffenheit der Krisen selbst oder die Anzahl der Krisen hat sich verändert, sondern unsere Voraussetzungen und unsere Fähigkeit, diese Krisen auszuhalten und gemeinsam anzupacken. Uns fehlt der Raum, um offen und ehrlich die existentiellen Fragen zu erörtern, die wir nur als ganze Gesellschaft gemeinsam beantworten können:

  • Wie schaffen wir die Transition hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft, wenn die Klimakrise uns mit immer stärkerer Wucht entgegenschlägt?
  • Wie schaffen wir sozialen Ausgleich in einer Gesellschaft, die sich technologisch rasant verändert? Und wie finanzieren wir dies?
  • Wie schaffen wir es, den Dialog zwischen den Generationen zu stärken, wenn vier Generationen gleichzeitig leben?
  • Wie schaffen wir es, auch dann zusammenzuhalten und demokratische Entscheide mit Blick auf das Ganze zu treffen, wenn Verteilkämpfe, Neid und Missgunst grassieren?

Polarisierung und Zusammenhalt

Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist keine naturgegebene Grundlage. Er ist ein hohes Gut. Er muss in einer vielfältigen Gesellschaft aktiv gepflegt werden. Besonders in der Schweiz. Neue Studien der renommierten Stanford-Universität zeigen, dass in der Schweiz die «affektive Polarisierung» besonders hoch ist – weltweit am zweithöchsten neben den USA. Im Vergleich zu anderen Ländern haben in der Schweiz besonders viele Menschen negative Gefühle gegenüber Menschen, die sie anderen politischen Gruppen zuordnen. Diese affektive Polarisierung führt auch dazu, dass wir den Austausch mit Andersdenkenden vermeiden. Für unsere Konkordanzdemokratie, die auf Kompromiss, Austausch und Ausgleich existentiell angewiesen ist, ist diese Form der Polarisierung Gift. Der verstorbene Alt-Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz sagte: «C’est parce qu’ils ne se comprennent pas que les Suisses s’entendent bien». Wir sollten für die Kohäsion unserer Gesellschaft alles dafür tun, dass der Dialog stets möglich bleibt.

Generationenübergreifend langfristig denken

Dafür braucht es aber gewisse Voraussetzungen, denn in Demokratien ist es nicht trivial, mit Krisen umzugehen:

  • Bei unseren Entscheiden müssen wir langfristig denken und nachkommende Generationen sowie alle betroffenen Teile der Gesellschaft berücksichtigen,
  • Die Herausforderungen müssen gemeinsam und bewusst priorisiert werden,
  • Die Lösungsoptionen sollten unter aktiver Teilhabe möglichst vieler erarbeitet werden,
  • Die Antworten auf gesellschaftliche Probleme müssen gemeinsam – also demokratisch – entschieden werden.

In den letzten 20 Jahren haben wir in der Schweiz denn auch kaum mehr eine wichtige Reform geschafft. Wir bringen wenig Neues zu Stande und verwalten den Status Quo, der nicht mehr lange tragbar ist. Die neuen Generationen spielen eine absolut zentrale Rolle für den Erhalt unserer Demokratie, und wir sollten uns frühzeitig mit den von ihnen verwendeten neuen Demokratie-Instrumenten befassen und sie einbinden.

Welchen Beitrag können Stiftungen leisten?

Mein Wunsch: Seien Sie Pionier:innen! Grundsätzlich sehe ich zwei unterschiedliche Innovations-Ansätze:

  1. Ist unsere Zielsetzung, Lücken im System zu schliessen und da Abhilfe leisten, wo Staat und Wirtschaft bisher nicht genügend präsent sind? In gewissen Bereichen sind Stiftungen und NGO’s die einzigen Akteure, die Verantwortung übernehmen können, da weder ein gesetzlicher Auftrag, noch ein klassisches Geschäftsmodell besteht.
  2. Oder ist es unser Ziel, neue und innovative Lösungen zu suchen? Dort, wo die Lösungen noch im Dunkeln sind, sollte Neues ausprobiert und getestet werden. Dieses «Ausprobieren» sollte transparent kommuniziert und zugänglich gemacht werden. Wir nennen das «strategisches Experimentieren».

Die SGG schliesst Lücken und experimentiert

In der SGG hat das gezielte Lücken schliessen bereits eine lange Tradition:

  • Einzelfallhilfe: Finanzielle Soforthilfe für Menschen in Notsituationen. Durchschnittlich 230 Unterstützungen pro Jahr. Grösster Bedarf: Gesundheits- und Zahnarztrechnungen.
  • Engagement-lokal: 10 ausgewählte Gemeinden und Regionen fördern trisektoral (Wirtschaft, Staat, Zivilgesellschaft) die Freiwilligenarbeit.
  • Intergeneration: Anlaufstelle für den Generationenaustausch und Onlineplattform mit 370 Generationenprojekten. Einzige Generationenplattform der ganzen Schweiz.
  • SeitenWechsel: Einmalige Weiterbildung für Führungskräfte aus der Wirtschaft in einer sozialen Institution. Durchschnittlich 100 Einsätze pro Jahr.
  • Job Caddie: Mentoring für Jugendliche und junge Erwachsene mit Schwierigkeiten in der Lehre und beim Berufseinstieg. Rund 300 Mentorate pro Jahr in Bern, Zürich, Schwyz/Oberer Zürichsee und Zug mit einer Erfolgsquote von 75 %.

Zudem wird neues ausprobiert und es werden strategische Experimente gewagt: 

  • Jobcaddie Labor Berufsbildung: Die Zukunft der Berufsbildung neu denken.
  • Mit unserem neu gegründeten Think + Do Tank «Pro Futuris» testen und entwickeln wir Innovationen für unser demokratisches System: Wir wollen herausfinden, mit welchen konkreten Formaten wir die demokratische Teilhabe verbessern und den Zusammenhalt in Vielfalt stärken können. So werden mit dem Projekt #Lasstunsreden Dialogformate getestet, um die Dialoginfrastruktur in der Schweiz zu untersuchen und weiterzuentwickeln.

Wirkungsvolle Projekte

Wie machen Sie es in Ihrer Stiftung? Versuchen Sie eher Lücken zu schliessen oder strategisch zu experimentieren? Stiftungen haben nicht zuletzt aufgrund der Steuerbefreiung die Verantwortung und Verpflichtung, ihre Mittel und Ressourcen für wirkungsvolle Projekte einzusetzen, die die Gesellschaft weiterbringen. In meiner Beobachtung werden allerdings oftmals neue Wege gemieden und viele eher traditionelle Projekte gefördert. Ich verstehe dies auch, denn Experimente können naturgemäss scheitern (und tun dies auch in vielen Fällen). Viele Stiftungen spielen so aber ihren einzigartigen «USP» nicht aus, indem sie Risiken vermeiden. Ein Beispiel dafür: Viele Demokratie-Themen werden als «zu politisch» eingestuft und gelten deshalb nicht als förderungswürdig. Dabei haben die meisten Projekte mit dem Anspruch einer systemischen Wirkung eine inhärente politische Dimension. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Es darf auf keinen Fall um Parteipolitik gehen – davon sollten sich Stiftungen fernhalten. Ich denke aber an Beispiele wie die Einführung der AHV oder auch die allgemeine Schulpflicht, auf die wir bei der SGG so stolz sind: Sie waren solche gemeinnützigen Projekte mit einer gesamtgesellschaftlichen, politischen Dimension.

Strategisches Experimentieren

Ein spannender Lösungsansatz für mehr Innovation könnte in der «Venture Philanthropy» liegen – will heissen: Stiftungen als risikofreudige Investor:innen, die bereit sind, neuartige Projekte zu unterstützen und ihre Erkenntnisse über Gelingen und auch Scheitern zu teilen. Im Unterschied zur Wirtschaft, wo «Venture Capital» häufig verwendet wird, damit ein Startup seine Konkurrenz ausbooten kann, ist es in der «Venture Philanthropy» genau umgekehrt: Der gesellschaftliche Gewinn fällt am höchsten aus, wenn viele kooperieren und ihre Kräfte bündeln.

Beim «strategischen Experimentieren» werden gemeinsam die Zukunftsthemen und dazu Experimente für konkrete gesellschaftliche Veränderungen definiert und dann im Kleinen getestet. Falls sie funktionieren, werden sie skaliert. Diese kleineren Experimente haben keine Erfolgsgarantie, sondern sind genau dazu da, die Risiken für grössere Investitionen zu limitieren. Anstatt einer normalen Projektlogik versuchen wir so in mehreren Etappen systemische Wirkung zu erzielen, die Wirkung wird dabei immer wieder gemessen.

Falls Sie sich für die Methode der strategischen Experimente interessieren, finden Sie dazu online verschiedene Beiträge unseres Think + Do Tanks Pro Futuris. 

Echte Pionier:innen sein

Stiftungen können echte Pionierinnen sein und dabei helfen, unsere Gesellschaft resilienter und handlungsfähiger zu machen für künftige Krisen. Denn Warren Buffett sagt es richtig: «Man sieht erst in der Ebbe, wer nackt schwimmen gegangen ist».