30. August 2019

Freiwilligenarbeit: Mittelschicht neigt zur Ich-AG

Die Bereitschaft zur Freiwilligenarbeit basiert auf Vertrauen in Staat und Gesellschaft. Gemeinsinn und Bereitschaft zum freiwilligen Engagement sinken vor allem in der Mittelschicht. Diese empfindet sich zunehmend als Verliererin in der globalisierten Welt. Die Wirtschaftsreporterin Inga Michler erhielt im Bereich Medien den diesjährigen Förderpreis «Aktive Bürgerschaft in Deutschland» für ihren Beitrag über die wachsende Ichbezogenheit der Mittelschicht. Diese Tendenz existiert auch in der Schweiz. Hier der leicht gekürzte Text.

Sanft klingen die Töne der Querflöte hinter einem Paravent hervor. Was das wohl sei, fragt die Führerin des berühmten Leipziger Gewandhausorchesters ihre jungen Zuhörer. „Na, so ein Ding, worauf man spielt“, ruft Anna. „Ein Instrument. Genau“, hilft die Pädagogin. „Und welches?“ Anna, ein dickes Mädchen im dünnen schwarzen Sommerkleid, ist ratlos. „Ne Tröte vielleicht?“ Zehn Drittklässler sind heute im Gewandhaus zu Besuch. Sie sind gemeinsam mit ihren Paten aus dem Projekt „Die Wunderfinder“ gekommen, um hinter die Kulissen des Orchesters zu schauen. Auch vor den Kulissen ist noch keines der Kinder je gewesen. Sie kommen aus einer Förderschule in einem einstigen Arbeiterviertel im Osten Leipzigs. Ihre Eltern gehen mit ihnen ins Einkaufszentrum, wenn es finanziell drin ist vielleicht auch mal ins Kino, nicht ins Konzert. Genau das ist das Ziel der Wunderfinder: Sie wollen Kindern die Augen öffnen für ihnen bislang unbekannte Orte in der Stadt. Und sie wollen ihren Paten – je ein Freiwilliger für zwei Kinder – Kontakte in eine für sie fremde Welt vermitteln.

Nicht jeder Engagierte ist Freiwilliger

Bürgerschaftliches Engagement heisst die grosse Idee dahinter – eine Haltung, an der es in Deutschland jedoch zunehmend mangelt. Freiwilliger Einsatz von Bürgern fürs Gemeinwohl ist selten geworden, vor allem im Osten des Landes. In Zeiten von Instagram, YouTube und maximalem Konsum, so scheint es, ist sich jeder selbst der Nächste. Aber was genau ist der Grund für die schwindende Bereitschaft, sich gesellschaftlich zu engagieren? Liest man die Zahlen der Bundesregierung, scheint alles in bester Ordnung zu sein. Dem jüngsten Engagement-Bericht zufolge sollen satte 44 Prozent der Bundesbürger „ehrenamtlich engagiert“ sein. Diese Menschen bildeten „die Basis für unsere Demokratie“, jubelte Ministerin Katharina Barley (SPD) im vergangenen Sommer. Dass der Bericht zu den „Engagierten“ jeden Teilnehmer einer Jogging-Gruppe und jeden Besucher eines Kita-Sommerfests hinzugezählt hatte, unterschlug sie allerdings.

Genauer betrachtet nämlich sieht es mit dem freiwilligen Dienst am anderen nicht ganz so rosig aus. Vereine und Freiwilligen-Organisationen landauf, landab klagen über Nachwuchsmangel. Ob im Fussballklub oder im Turnverein, ob als Lesepate für Kinder aus sozial schwachen Familien oder als Mitglied bei der freiwilligen Feuerwehr: Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und sich in diesem Sinne langfristig an ein Ehrenamt zu binden – sie sinkt seit Jahren.

Sinkende Hilfsbereitschaft

Leipzig, die Stadt der Montagsdemonstrationen, die die DDR am Ende zu Fall brachten, hätte ein Aushängeschild werden können. Wo, wenn nicht hier, in der ehemaligen Kaufmannsmetropole, die selbst zu DDR-Zeiten als weltoffen galt, sollte der Nährboden für bürgerliches Engagement besser sein? Darauf bauten wohl auch die 48 Personen, die im Jahr 2003 die „Stiftung Bürger für Leipzig“ ins Leben riefen. Bis heute reicht eine einmalige Zahlung von 500 Euro, um Zustifter zu werden. Trotzdem sind in 15 Jahren nicht einmal 100 Unterstützer hinzugekommen. Gerade einmal 300.000 Euro Kapital bringt die Bürgerstiftung der 600.000-Einwohnermetropole damit auf die Waage. Viele Leipziger sind durch Rückübertragungen nach der Wende zu Mietern geworden – zu wenig Betuchten noch dazu. Mit einem verfügbaren Jahreseinkommen von noch nicht einmal 17.500 Euro pro Person liegen sie sogar noch um 1000 Euro niedriger als der ostdeutsche Durchschnitt. Zum Vergleich: Dem Durchschnitts-Münchner verbleiben nach Steuern und Sozialausgaben mehr als 27.000 Euro pro Jahr für Sparen und Konsum. Allerdings: Wer sich für andere einsetzen möchte, muss nicht unbedingt reich sein. Er muss nur bereit sein, anderen etwas abzugeben von dem, was er hat. Das kann Geld sein. Das kann Zeit sein. Oder auch Wissen. Doch egal ob materielle oder immaterielle Güter: Die Bereitschaft zu teilen ist im ganzen Land auf dem Rückzug. Der Philosoph und Kultursoziologe Wolfgang Engler sieht den Grund dafür in einer breiten Mitte der Gesellschaft, die sich zunehmend verloren fühle. Noch Anfang der 90er-Jahre hätten viele dieser Menschen in dem Eindruck gelebt, alle gemeinsam „mit dem Fahrstuhl nach oben“ zu fahren. „Doch irgendwann blieb der Fahrstuhl stecken.“

Verlustgefühle fördern den Ich-Fokus

Heute habe die Mehrheit der Mittelschicht nicht mehr die Zuversicht, dass es ihren Kindern einmal besser gehen werde als ihnen selbst. Immer mehr Leute fühlten sich ungerecht behandelt, auch vom Staat: An den, so der Eindruck, müsse man zu viel abgeben und bekomme zu wenig zurück. Dieses Empfinden mache nicht nur unzufrieden, betont der Soziologe Wolfgang Engler. Es bremse auch das Engagement für andere: „Wer glaubt, mit ihm werde nicht gerecht geteilt, hat eine geringe Neigung mit anderen zu teilen. Das führt zu einer Verhärtung der eigenen Positionen, zum Festhalten an dem, was man hat.“ Dass sich die Fronten im gesamten Land verhärten, sieht man auch an der sinkenden Spendenbereitschaft. Binnen zehn Jahren brach der Anteil derjenigen in der Bevölkerung, die spenden, um ein Viertel ein. Nach Zahlen des Deutschen Spendenrats gab im Jahr 2016 nur noch jeder dritte Deutsche Geld für einen guten Zweck. Deutlich unterrepräsentiert sind unter den Spendern die Jungen. Dort habe Soziologen schon seit Jahren einen Trend zum „Ich“ ausgemacht. Helikopter-Eltern, die um ihren Nachwuchs kreisen, erziehen Kinder, die sich vor allem um sich selbst drehen. Soziale Medien befeuern den Hang zur Selbstdarstellung. Hinter dem inszenierten „Ich“ tritt das „Wir“ zurück.

Unverbindlichkeit lässt Organisationen schwinden

Dass sich viele althergebrachte Gemeinschaften in einem Prozess der Auflösung befinden, lässt sich auch an den einst grossen Volksparteien ablesen. SPD und CDU haben seit den 90er-Jahren zusammen über 860.000 Menschen – und damit die Hälfte ihrer Mitglieder – eingebüsst. Die evangelische und die katholische Kirche verloren ihrerseits seit 1990 im Saldo über sechs Millionen Menschen allein durch Austritte. Einzig die Sportvereine bleiben mit knapp 24 Millionen Mitgliedern auf dem Papier stabil. Doch auch sie haben es immer schwerer, Ehrenamtliche zu finden, die etwa als Trainer den Sportsgeist aufrechterhalten und weitergeben. Die Sportvereine klagen ausserdem über eine wachsende Konsummentalität ihrer Mitglieder. Viele nähmen das Training mit und kämen vielleicht auf ein Bierchen zur Weihnachtsfeier – aber wenn, dann bitte alles ganz unverbindlich. Sich zu einem Amt verpflichten oder gar zu regelmässigen Einsätzen als Ehrenamtliche, das wollten nur die wenigsten. Es fehlen unter anderen die vielen Hausfrauen aus bürgerlichen Familien, die sich dereinst oft nur zu gern engagierten, sobald die Kinder aus dem Gröbsten raus waren. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Es gibt schlicht weniger von ihnen, weil immer mehr Frauen erwerbstätig sind. Allein in den vergangenen 20 Jahren stieg die Erwerbsbeteiligung von Frauen in Deutschland von unter 60 auf 75 Prozent.

Engagement-Kultur fördern

Im Osten Deutschlands kommt ein Sondereffekt dazu: Schon historisch bedingt fehlt dort vielerorts das klassische Bürgertum gänzlich, das im Westen über Stiftungen und Spenden oft Treiber des Engagements ist. „Im Osten finden wir bis heute große Skepsis gegenüber staatlichen Institutionen und dem vermeintlich korrupten Establishment“, sagt Michael Hofmann, Professor für Soziologie an der TU Dresden. Der Wissenschaftler hat die Stiftung «Bürger für Leipzig» mitgegründet und analysiert nüchtern, woran es fehlt: „Die DDR hat bürgerliche Eliten vertrieben.“ Ihr Ideal sei nun einmal die Arbeitergesellschaft gewesen – die Wurzel für eine kleinbürgerliche Kultur, die heute vielerorts zu beobachten sei. „Fleißige Leute, häufig durchaus saturiert, die sich hinter ihrem Gartenzaun ein schönes Leben machen wollen.“ Hofmann findet es wichtig, die Menschen hinter ihren Gartenzäunen hervorzulocken. Deswegen organisiert die Stiftung auch ein regelmäßiges Bürgersingen im Park und ein Erzählcafé. Wenn es Private allein nicht schafften, müsse eben der Staat ran – mit Geld für freiwillige Feuerwehren in den Dörfern zum Beispiel. Auch Stefan Nährlich sieht den Staat in der Pflicht, um Engagement im Land zu beflügeln. Er ist Geschäftsführer der gemeinnützigen Stiftung «Aktive Bürgerschaft der Volks- und Raiffeisenbanken». Er hat zwei zentrale Forderungen an die Politik: Erstens sollten die Bürger über die Verwendung eines kleinen Teils ihrer Steuergelder selbst entscheiden dürfen. Sie sollten in Eigenregie die gemeinnützigen Vereine oder Stiftungen auswählen können, denen das Finanzamt ein Prozent ihrer Einkommensteuer direkt überweist. Länder wie Ungarn, Litauen, Polen und Rumänen haben solche Modelle schon. In Deutschland allerdings sind die Regierungsparteien von dieser Idee, die ihre eigenen Finanzen beschneidet, noch nicht überzeugt. Forderung Nummer zwei zielt ab auf die Bildung. Schon in Schulen und Hochschulen müssten junge Leute den Einsatz für andere deutlich mehr einüben als es heute üblich ist. Mit speziellen Projekten – Stichwort „Service Learning“ – sollten sie zum Engagement angeleitet werden.