14. Dezember 2016
Werte sind der Klebstoff der Willensnation
Aktuelle Politiker-Statements im Bereich Werte, Identität, Kultur und Religion sind weit entfernt davon, echte Wertedebatten zu sein. Nicht selten verbirgt sich hinter Statements wie «der Islam gehört nicht zur Schweiz» Vorstellungen von einer Leitkultur, die von einer homogenen Schweizer Bevölkerung ausgeht, wie sie schon seit 100 Jahren nicht mehr existiert.
Aktuelle Politiker-Statements im Bereich Werte, Identität, Kultur und Religion sind weit entfernt davon, echte Wertedebatten zu sein. Nicht selten verbirgt sich hinter Statements wie «der Islam gehört nicht zur Schweiz» Vorstellungen von einer Leitkultur, die von einer homogenen Schweizer Bevölkerung ausgeht, wie sie schon seit 100 Jahren nicht mehr existiert. Auch wenn es in der Willensnation Schweiz tatsächlich gemeinsame Werte sind, die uns zusammenhalten, hat bis heute keine echte Wertedebatte stattgefunden. Von politischer Seite wird sie auch gar nicht erwartet. Kommt hinzu, dass die Schweiz ihre zentralen Werte längst meisterhaft formuliert und mehrheitlich akzeptiert hat: nämlich die Werte der Schweizer Bundesverfassung von 1999. Der Einleitungstext, die Präambel, stellt quasi das nationale Leitbild dar und enthält die zentralen Werte der heutigen Schweiz: Demokratie, Einheit in Vielfalt, Freiheit, Frieden, Solidarität, Unabhängigkeit sowie Sorge für die Umwelt, für die sozial Schwachen und für die künftigen Generationen.
Den Buchstaben Leben einhauchen
Umso wichtiger ist es, die in der Bundesverfassung stehenden Werte nicht nur Buchstabe bleiben zu lassen, sondern ins aktive Bewusstsein der Bevölkerung zu bringen, damit diese Werte bekannt, verinnerlicht und realisiert werden. Ein idealer Weg dazu ist nach Ansicht der SGG die Integration dieser Werte in einen neuen Nationalhymnen-Text. Aus dem von der SGG initiierten Künstlerwettbewerb ging im Herbst 2015 der Hymnentext von Werner Widmer als Sieger hervor. Der Musiktheoretiker und Gesundheitsökonom hat seinen Text zur bisherigen Hymnen-Melodie von Alberik Zwyssig geschrieben. Der Text verwendet bewusst leicht verständliche Worte und Bilder. So kann sich man den Text besser merken als den «Schweizerpsalm». Der vorgeschlagene neue Hymnen-Text lautet:
Weisses Kreuz auf rotem Grund,
unser Zeichen für den Bund:
Freiheit, Unabhängigkeit, Frieden.
Offen für die Welt, in der wir leben,
woll’n wir nach Gerechtigkeit streben.
Frei, wer seine Freiheit nützt,
stark ein Volk, das Schwache stützt.
Weisses Kreuz auf rotem Grund,
singen alle wie aus einem Mund.
Man kann nur etwas Neues wählen, das man halbwegs kennt. Darum ist die SGG wie der Schweizer Bundesrat der Auffassung, dass eine neue Nationalhymne zunächst in der Bevölkerung populär werden muss, ehe sie von den zuständigen Behörden und vom Stimmvolk als neue Hymne gewählt werden kann. Die SGG sandte im Juni 2016 den vorgeschlagenen neuen Hymnentext an alle Gemeinden der Schweiz, damit der Text am Bundesfeiertag an möglichst vielen Orten gesungen würde. Manche Gemeinden reagierten wohlwollend und dankbar für die kreative Idee. Andere reagierten kritisch bis ablehnend, weil der vorgeschlagene Text noch nicht offiziell ist. In den Diskussionen und Mail-Wechseln mit den skeptischen Gemeinderäten und Gemeindeschreibern stellte ich fest, dass viele Schweizer nicht wissen, dass bereits Jahrzehnte vor 1961 «Trittst im Morgenrot» am 1. August neben der damaligen Hymne gesungen wurde, ohne dass dies ein Problem darstellte. Viele wissen auch nicht, dass das Singen des jetzigen Hymnentextes seit 1981 lediglich bei militärischen und diplomatischen Anlässen verpflichtend ist, nicht aber bei allen anderen Anlässen. Und viele wissen auch nicht, dass der Bundesrat das Hymnen-Projekt der SGG gegenüber dem Parlament in den letzten drei Jahren mehrmals explizit für gerechtfertigt erklärte.
Bundesrat verteidigt Hymnen-Projekt
Bereits 1894, als ein Genfer Gesangslehrer den „Schweizerpsalm“ als neue Nationalhymne vorschlug, vertrat der Bundesrat die Haltung, dass die Einführung eines derartigen Gesanges nicht durch Beschluss irgendeiner Staatsbehörde angeordnet werden könne, sondern dem Geschmack des singenden Volkes anheimgestellt bleiben müsse. Diese Haltung hat der Bundesrat auch 120 Jahre später mehrmals eingenommen, als sich Parlamentarier mit Interpellationen und Motionen gegen das Hymnen-Projekt der SGG stellten. Am 19.2.2014 antwortete der Bundesrat auf eine Motion: Die Nationalhymne war seit ihrer Einführung 1961 umstritten. Es gab darum in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Anläufe zu einer Überarbeitung der Landeshymne. Der Bundesrat versteht diese Anregungen als konstruktiven Beitrag engagierter Bürgerinnen und Bürger. Aus Sicht des Bundesrates ist das Vorgehen der Schweizerischen gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) nicht zu beanstanden. Am 25.6.2014 reagierte der Bundesrat auf eine weitere Motion: Der Bundesrat kann zusichern, dass er eine neue Landeshymne nicht in eigener Kompetenz und nicht ohne Konsultation der Räte beschliessen wird. Am 19.11.2014 antwortete der Bundesrat auf eine Interpellation: «Es gibt keine Rechtsgrundlage, welche den sogenannten „Schweizerpsalm“ als Hoheitszeichen oder Staatssymbol der Schweiz schützt. Der von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) ausgeschriebene Wettbewerb verletzt darum geltendes Recht nicht. Und letztmals äusserte sich der Bundesrat am 16.11.2016 auf eine Motion: Der Bundesrat kann in den Bemühungen der SGG um eine neue Nationalhymne kein illoyales Verhalten erkennen.[nbsp]
An über 20 Orten erklang «Weisses Kreuz
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Die Haltung des Bundesrats, dass ein neuer Hymnentext zunächst in der Bevölkerung bekannt und beliebt sein muss, ehe er auf die politische Ebene gehoben wird, teilten rund 20 Gemeinden, in denen am 1. August 2016 neben ein bis vier Strophen des Schweizerpsalms auch der vorgeschlagene neue Hymnentext erklang. Dies war der Fall in Teufen AR, Wil SG, Muolen SG, Bischofszell TG, Bazenheid SG, Hombrechtikon ZH, Richterswil ZH, Meinier GE, Champéry VS, Vaumarcus NE, Genthod GE, Lauenen BE, Bern, Rigi Klösterli SZ, Arbon TG, Schänis SG, Schmerikon SG, Gommiswald SG, Glarus GL, Zollikerberg ZH und in Estavayer-le-Lac FR. Auch auf dem Rütli und im Schweizerverein von Miami wurde neben dem heutigen Hymnentext die Strophe von Werner Widmer gesungen. Ziel der SGG ist, dass der vorgeschlagene neue Hymnentext am 1. August 2017 in mindestens 50 Gemeinden neben dem bisherigen Text gesungen wird. Besonders qualitative Interpretationen werden auf der Webseite des Hymnen-Projekts präsentiert. Eingereicht wird der neue Text im Parlament erst dann, wenn sich ein grosser Teil der Bevölkerung mehr mit dem vorgeschlagenen neuen Hymnentext identifizieren kann als mit dem «Schweizerpsalm».[nbsp]
Anno 1841 wurde der Text der heutigen Schweizer Nationalhymne vom Zürcher Leonhard Widmer geschrieben. 174 Jahre später gewann sein Namensvetter, der Zürcher Werner Widmer, den Künstlerwettbewerb für eine Neuvertextung der Hymne-Melodie von Alberik Zwyssig.
Lukas Niederberger