5. Dezember 2017
Was nützt Freiwilligenarbeit – und wem?
Über 220 Personen, die in allen Landesteilen Freiwillige koordinieren, weiterbilden oder die Zivilgesellschaft erforschen, kamen an der Fachtagung in Bern zusammen. Während die Tagungen vom Schweizerischen Netzwerk freiwillig.engagiert in den vorangegangenen Jahren die Anerkennung von Freiwilligenarbeit im ersten Arbeitsmarkt sowie die Motivation, die Rekrutierung und die Diversität der Freiwilligen thematisiert hatten, ging es dieses Mal um den Nutzen der Freiwilligenarbeit für die verschiedenen Zielgruppen: für die Begünstigten, für die Freiwilligen, für die Organisationen und für die gesamte Gesellschaft.
In drei Podiumsgesprächen wurden der Nutzen der Freiwilligenarbeit sowie die Optimierung dieses Nutzens erörtert. Moderiert wurden die Gespräche von Emilia Pasquier (Geschäftsführerin von foraus) und dem Organisator der Tagung, Lukas Niederberger (Geschäftsleiter SGG).
Beim ersten Podiumsgespräch ging es um den gesellschaftlichen Nutzen der Freiwilligenarbeit. Der volkswirtschaftliche Nutzen wird jeweils durch das Bundesamt für Statistik in Franken errechnet: 700 Millionen Stunden multipliziert mit 55 Franken. Das monetäre Berechnen von Freiwilligenarbeit ist nicht unbedenklich, weil diese und auch die Motivation dafür gerade in der Unentgeltlichkeit liegen. Die diskutierenden Fachpersonen (Jacqueline Schön-Bühlmann vom Bundesamt für Statistik, Markus Freitag von der Uni Bern, Cornelia Hürzeler von Migros Kulturprozent, Reto Lindegger vom Schweizerischen Gemeindeverband und Karin Breuninger von Genève Bénévolat) hoben den gesellschaftlichen Nutzen von Freiwilligenarbeit darum nicht so sehr auf der monetären Ebene hervor, sondern vor allem in den Bereichen Teilhabe, Partizipation, Demokratie und soziale Kohäsion. Die 20 Kleingruppen sahen das Potenzial zur Optimierung des gesellschaftlichen Nutzens in allen gesellschaftlichen Bereichen:
Freiwilligenorganisationen der Zivilgesellschaft:
– Schaffung von Koordinationsstellen
– gezielt Neu-Pensionierte, junge Peergroups und Zuwanderer ansprechen
– Möglichkeit zu Kompetenzerwerb/Weiterentwicklung bieten
– Reduktion von Bürokratie
– Stärkung der Öffentlichkeitsarbeit
– stärkere Vernetzung mit anderen der Freiwilligenorganisationen Wirtschaft:
– stärkere Zusammenarbeit der Freiwilligenorganisationen mit Unternehmen
– stärkere Anerkennung von freiwilligem Engagement durch Unternehmen Staat:
– stärkere Zusammenarbeit der Freiwilligenorganisationen mit Gemeinden
– Sensibilisierung der Politik für das zivilgesellschaftliche Engagement
Das zweite Podiumsgespräch widmete sich dem Nutzen der Freiwilligenarbeit für die Freiwilligen selbst. Die Diskutierenden (Sandrine Cortessis vom Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung, Denise Moser von Innovage, Latha Heiniger vom Unispital CHUV in Lausanne und Stefan Güntert von der FHNW) waren sich einig, dass Freiwillige je nach Generation und je nach Art des Engagements unterschiedlich von ihrem Engagement profitieren. Gemeinsam ist allen, dass der Anspruch auf Sinnerfahrung und Freude höher ist als bei der Erwerbsarbeit. Interessant war die Erkenntnis aus einer Studie, die demnächst von Stefan Güntert publiziert wird: Die Motivation der Freiwilligen ist umso höher, je besser die Organisation mit ihren bezahlten Mitarbeitenden umgeht.
Im dritten Podiumsgespräch wurde die kontroverse und ungelöste Frage der materiellen Vergütungen von Freiwilligenarbeit thematisiert. Eine Befragung von rund 400 Fachpersonen ergab, dass über 60% von ihnen finanzielle Vergütungen bei freiwilligen Einsätzen als Widerspruch bezeichnen. Professor Theo Wehner stellte sich gegen materielle Vergütungen von freiwilligen Engagements, weil sie die Ökonomisierung und Managementisierung all unserer Lebensbereiche zusätzlich fördern. Carine Fleury Bique vom Schweizerischen Roten Kreuz betonte, dass jede Tätigkeit, für die mehr als reine Spesen ausbezahlt werden, als Erwerbsarbeit bezeichnet und darum klar als solche deklariert werden müsse. Für Markus Gmür vom Institut für Verbandsmanagement und für Ruedi Winkler, den Präsidenten von KISS (Zeitgutschriften für Nachbarschaftshilfe), sind monetäre Vergütungen Möglichkeiten, um Menschen zur Freiwilligenarbeit zu motivieren, die sich ein Engagement sonst nicht leisten könnten. Es sei auch nicht logisch, warum in NPOs die operative Leitung selbstverständlich Lohn beziehe und die strategische Leitung in Vorständen und Stiftungsräten nicht. Einig waren sich die Fachleute auf dem Podium und im Publikum, dass der Begriff Freiwilligenarbeit in den kommenden Jahren neu definiert werden muss. Zwei Beispiele mögen dies veranschaulichen: Die Betreuung von Angehörigen wird ausserhalb der eigenen vier Wände im deutschen Sprachraum als Freiwilligenarbeit bezeichnet, während diese im französischen Sprachraum unabhängig vom Ort keine Freiwilligenarbeit darstellt, weil eine moralische Verpflichtung zu diesem Einsatz besteht. Bezüglich Vergütungen wird im Französischen unterschieden zwischen Volontaires oder Assistants mit Vergütungen und Bénévoles, die unentgeltlich wirken. Vielleicht braucht es im Deutschen eine analoge Differenzierung zwischen vergüteten Mitwirkenden und nicht-vergüteten Freiwilligen. In den 20 Kleingruppen nannten die Teilnehmenden verschiedene Vergütungs- und Anreizsysteme, die den Nutzen der Freiwilligenarbeit erhöhen und gleichzeitig deren Unentgeltlichkeit bewahren würden:
– Entschädigung von realen Ausgaben / Spesen / allenfalls Sitzungsgeld
– Sachgeschenke (Essen, Apéro, gemeinsame Anlässe, Ausflüge, Geburtstags- und Weihnachtskarten)
– Öffentliche Anerkennung
– Dankeswort am 5.12. durch Bundespräsident/in
– Möglichkeit zur Weiterbildung
– Teambildungsanlässe oder Themenabende mit Fachinputs
– Gratismitgliedschaft in der Organisation
– Coaching-Angebot
– Benützung von Räumlichkeiten und Arbeitsmitteln für den privaten Gebrauch
– Gutscheine innerhalb der eigenen Organisation (z.B. Konzerttickets)
– Ausstellen von Arbeitsnachweis (Dossier „freiwillig.engagiert“)
– Anerkennung der Freiwilligenarbeit als Arbeitszeit (durch Arbeitgeber)
– Möglichkeit zur Mitbestimmung in der Organisation
Am Ende der Tagung präsentierte Maximiliane Basile die in Entwicklung stehende App «Five up», die ab Sommer 2018 der Koordination von Freiwilligenarbeit dienen wird.