3. März 2020
Ausstellung auf dem Rütli: Gesichter der Sozialhilfe
Ausstellung im «Musée Grütli»
Unterbrochene Lebenswege. Gesichter der Sozialhilfe
13. Juni 2020 bis 11. November 2021
Öffentliche Vernissage mit herzlicher Einladung: Samstag, 13. Juni 2020, 11.30 Uhr
Seit 2017 hat die Filmkünstlerin und Fotografin Ghislaine Heger die Ausstellung mit portraitierten Sozialhilfeempfäger*innen an über[nbsp]15 Orten der Westschweiz gezeigt und parallel zur Wanderausstellung zahlreiche Podiumsdiskussionen und Raferate zum Thema Armut und Sozialhilfe organisiert. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG), die das Rütli verwaltet und dort das «Musée Grütli» leitet, fand das Thema so wichtig, dass sie die Übersetzungsarbeiten auf Deutsch, die Ton-Aufnahmen, Film-Produktionen sowie die technischen Installationen im «Musée Grütli» finanzierte. Die Ausstellung wird an der Wiege der Eidgenossenschaft während der beiden Sommersaisons 2020 und 2021 gezeigt. Für die Ausstellung auf dem Rütli hat Ghislaine Heger zusammen mit dem Szenografen Michia Schweizer eine neue Ausgabe der Ausstellung mit interaktiven Elementen kreiert.
Gesichter, Geschichten und Wege, die von Unfällen auf Lebenszeit durchsetzt sind
Die in der Ausstellung portraitierten Personen sind zwischen 19 und 63 Jahre alt. Ihre Schicksale sind individuell verschieden: eine Entlassung, ein Unfall, eine Scheidung, eine gequälte Kindheit, eine instabile berufliche Situation oder etwas von allem auf einmal. Einige der Portraitierten brauchten nur für einige Wochen oder Monate Sozialhilfe, andere leben seit mehreren Jahren davon. Ihre Prekarität verhindert nicht nur die gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe, sondern führte auch zum Verlust sozialer Bindungen und zu psychologischer und moralischer Not, die zusätzlich verstärkt werden durch Vorurteile, die sie als Profiteure, Missbraucher oder Faulenzer stigmatisieren. Die Porträts wurden bei den Betroffenen zu Hause aufgenommen. Die meisten Personen, die sich zur Teilnahme an diesem Ausstellungsprojekt bereit erklärten, taten sich schwer mit dem Fotoporträt, das ihren Blick in einer unrühmlichen Lebenssituation einfrieren liess, die sie lieber nie gekannt hätten.
Selbstbetrachtung statt Elends-Voyeurismus
Ghislaine Heger und Michia Schweizer wollen mit dem Ausstellungs-Projekt den Menschen, die oft keine Stimme haben, eine Stimme geben, sie so sein lassen, wie sie sind, ohne sie zu verurteilen. Vor allem versucht die Fotografin und Filmerin vereinfachende Klischees über Sozialhilfe und Begünstigte auszuräumen und uns bewusst zu machen, dass die Geschichte der Armutsbetroffenen genauso gut unsere eigene Geschichte sein oder werden könnte.» Die Ausstellung «Itinéraires entrecoupés» (Unterbrochene Lebenswege) setzt sich mit den sozialen Rechten und der Sozialhilfe auseinander. Die betroffenen Personen stehen im Vordergrund und ihr fotografisches Porträt erscheint in einem fruchtbaren und respektvollen Dialog mit der Ausstellungsautorin, Fotografin und Filmerin. Wer die Aufnahmen der armutsbetroffenen Personen betrachtet, kreiert eine eigene Geschichte dazu, die wiederum auf die Abgebildeten zurückwirken. Dieser Prozess zielt darauf ab, unsere eigenen Vorurteile und Stereotype zu hinterfragen. Bringt man die Fotoporträts und die mündlichen Zeugnisse zusammen, erkennt man neue Perspektiven und beginnt sich zu fragen: Was wäre, wenn es mich träfe? Wer die Bilder betrachtet, entdeckt, wie sehr und wie schnell eine Bahn, von der Menschen gehofft hatten, dass sie stets linear verläuft, auf den Kopf gestellt werden kann.
Die betroffenen Ausstellungsmacher
Ghislaine Heger, Autorin, Fotografin und Filmerin des Projekts „Unterbrochene Lebenswege“, sah sich 2008 mit der Peinlichkeit konfrontiert, den Staat um Sozialhilfe bitten zu müssen, und mit der Demütigung, sich vor Beratern entblössen zu müssen, die sie in einem Augenblick zum Kind werden liessen und ihr das Wenige, das sie noch hatte, wegnahmen. In dieser Zeit musste sie sich mit ihren eigenen Vorurteilen gegenüber Sozialhilfeempfängern auseinandersetzen. informierte sich über deren Lebenswege und stellte sich ihren Geschichten und Gesichtern, die manchmal beschädigt, manchmal lächelnd, manchmal desillusioniert waren. Nach ihrem Film-Studium an der Genfer Hochschule für Kunst und Design (HEAD) führte Ghislaine Heger Regie bei Kurzfilmen und arbeitete für zahlreiche Produktionsfirmen in der Schweiz sowie für Filmfestivals und andere audiovisuelle Institutionen. Zwischen 2012 und 2016 koordinierte sie die Tournee der Kurzfilmnacht in der Westschweiz und im Tessin. Heute leitet Film- und Fotoprojekte im dokumentarischen Stil und arbeitet für kulturelle Veranstaltungen in der Westschweiz.[nbsp]
Für die Ausstellung im Musée Grütli hat Ghislaine Heger zusammen mit Michia Schweizer eine Struktur geschaffen, die Besuchende mit verschiedenen Sinnen die Verbindung zwischen dem Thema, den beteiligten Personen und der eigenen Existenz erfahren lässt. Michia Schweizer arbeitet seit vielen Jahren als soziokultureller Animateur in Freiburg und hat mehrere Bühnenbilder für das Theater geschaffen.
Viel Halbwissen über Armut und Sozialhilfe
Die Schweizer Bundesverfassung von 1999 garantiert im Artikel 12 das Recht aller Bewohnerinnen und Bewohner auf Hilfe in Notlagen: «Jede Person, die sich in einer Notlage befindet und nicht in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, hat das Recht, Hilfe und Beistand zu erhalten und die Mittel zu erhalten, die notwendig sind, um eine menschenwürdige Existenz zu führen.»
Die Realität sieht leider etwas anders aus: Von den rund 600’000 Armutsbetroffenen in der Schweiz bezieht nicht einmal die Hälfte staatliche Sozialhilfe, in ländlichen Gebieten ist es sogar nur ein Viertel, weil dort die soziale Kontrolle und die Ächtung von Hilfsbedürftigen grösser sind. Andere verzichten auf staatliche Sozialhilfe aus Angst vor behördlichen Massnahmen (z.B. KESB), aus Angst vor Verlust des politischen Status (Ausweis B oder C oder Grund für Nicht-Einbürgerung), wegen fehlendem Wissen über das Bezugsrecht, wegen mangelnden Sprachkenntnissen oder Kräften für die Behördengänge, aus Scheu vor dem bürokratischen Aufwand, in der Hoffnung auf rasche finanzielle Erholung, aus Angst vor Autonomieverlust sowie wegen Bedenken, dass die Armut vom Staat nicht aktiv bekämpft wird. 130000 Armutsbetroffene gehen einer regelmässigen Erwerbsarbeit nach, sie sind sogenannte «working poor».
Viele Menschen können nicht glauben, dass 8 von 100 Personen von Armut betroffen sind, viele davon Kinder und Jugendliche. „Schweizer, die unverschuldet in Armut geraten? Das kann doch nicht sein.“. Solche Meinungen finden sich nicht selten in Leserbriefspalten und Online-Kommentaren, wenn über Armut in der Schweiz berichtet wird. Zudem wird die staatliche Sozialhilfe aus neoliberaler Sicht nicht als eine Stärke des Volkes betrachtet, das laut Verfassungspräambel am Wohl der Schwachen gemessen wird, sondern als eine fragwürdige linke Forderung, die Faulenzer und Schmarotzer daran hindert, selbstverantwortlich ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Meldungen wie „Sozialhilfe kürzen“ oder „die Zahl der Begünstigten reduzieren“ überwiegen, wenn das Thema Sozialhilfe auf der politischen Ebene diskutiert wird. Der Druck auf Armutsbetroffene ist stark.
Sozialsystem weder beschönigen noch verteufeln
Das Schweizer Sozialwesen lässt niemanden ohne Obdach und Nahrung. Beim Grundrecht auf Gesundheit und Bildung hört die Selbstverständlichkeit allerdings schon auf. Manche Schwachstellen des Schweizer Sozialsystems hat mit der föderalistischen Struktur zu tun. Es gibt kein landeweites Sozialgesetz und darum auch keine Rechtsgleichheit. Beispielsweise setzt jede Gemeinde ortsübliche Mietbeträge fest, die von Sozialhilfeempfängern nicht überschritten werden dürfen. In manchen Gemeinden existieren aber gar keine Wohnungen unter der willkürlich festgelegten Grenze. Weil die meisten Gemeinden keine ausstehenden Krankenkassenprämien und Mietschulden übernehmen, erhalten Sozialhilfeempfänger in manchen Kantonen nur noch medizinische Nothilfe oder verlieren ihre Wohnung. In manchen Kantonen bezahlen die Gemeinden Mietzinskautionen, in anderen nicht. Manche Kantone fordern bezahlte Sozialhilfe ewig zurück, in anderen Kantonen verjähren die Rückerstattungsansprüche. Innerhalb der Sozialhilfe wird nur in wenigen Gemeinden die von der Verfassung geforderte Rechtsberatung angeboten. Bei der Anstellung von Personal in kommunalen Sozialdiensten und Sozialbehörden werden selten Grundkenntnisse in Sozialarbeit und Sozialhilfe vorausgesetzt. Die Zuständigen sie sind auch nicht zu regelmässiger Weiterbildung im Sozialhilferecht verpflichtet. Kommt hinzu, dass Parlamente und Stimmbürger in manchen Kantonen die staatliche Sozialhilfe gekürzt haben. All diese Gründe sorgen dafür, dass die private Einzelhilfe immer öfter angefordert wird. Diese Entwicklung beobachten Organisationen wie die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG), die Winterhilfe, die Stiftung SOS Beobachter und zahlreiche weitere Stiftungen seit Jahren mit Besorgnis. Letztlich geht es um die Frage der in der Verfassung definierten Aufgaben und Verantwortlichkeiten.
«Charta Sozialhilfe Schweiz» unterstützen
Ende März 2019 wurde von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen die «Charta Sozialhilfe Schweiz» präsentiert. Ziel der Charta ist, dass die positiven Aspekte der Sozialhilfe deutlicher erkannt werden und dass die Sozialhilfe als Grundanliegen einer breiten Allianz von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft wahrgenommen und aktiv gefördert wird.
Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) unterstützt die Charta aus fünf Gründen:
- Die Charta soll uns alle an die in der Verfassungs-Präambel formulierte Gewissheit erinnern, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst.
- Die Charta soll bewirken, dass Armut in der Schweiz nicht bloss verwaltet, sondern durch Aus- und Weiterbildungen aktiv bekämpft wird.
- Die Charta soll dazu führen, dass der Armutstourismus abnimmt durch einheitlichere Sozialhilfe-Richtlinien in den Kantonen und Gemeinden.
- Die Charta soll den Staat ermutigen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, welche jede vierte armutsbetroffene Person davon abhalten, von ihrem Recht auf Sozialhilfe Gebrauch zu machen.
- Die Charta soll das Ziel der Sozialhilfe stärken, dass alle Menschen in diesem Land aktiv am sozialen und kulturellen Leben teilhaben können.
Sowohl Organisationen als auch Private können die Charta unterstützen.
Informationen: https://charta-sozialhilfe.ch[nbsp]
Einladung, das eigene Sozialbudget zu erstellen
Die Armutsgrenze für eine Einzelperson ohne Krankenkassenprämie liegt in der Schweiz bei 2200 Franken pro Monat. Für zwei Erwachsene liegt sie bei 3050 Franken, für alleinerziehende Eltern mit zwei Kindern bei 3600 Franken und bei einem Elternpaar mit zwei Kindern bei 4050 Franken. Das klingt nach viel Geld.
In der Ausstellung finden Sie auf Deutsch, Französisch und Englisch Formulare, wie sie in den kommunalen Sozialämtern existieren, um das Budget von Armutsbetroffenen zu erstellen und die Höhe der Sozialhilfe zu berechnen.
Erstellen Sie mit selbst einmal ein Sozialhilfe-Budget. Erleben Sie konkret, welche Ausgaben auf einmal nicht mehr drin liegen, die für Sie bisher völlig selbstverständlich waren. Spüren Sie auch, wie weit ein Sozialhilfe-Budget Sie in Ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe einschränkt.
Konzept
Ghislaine Heger, Michia Schweizer
Szenografie
Michia Schweizer
Texte und Filmrealisation
Ghislaine Heger
Grafische Gestaltung
Elise Gaud de Buck
Deutsche Übersetzung
Hubertus von Gemmingen
Englische Übersetzung
Elaine Sheerin
Produktion
Verein Tokyo Moon
Information:[nbsp]www.itineraires-entrecoupes.ch