18. April 2018
4. SGG-Freiwilligentagung: Zivilgesellschaft entdecken – bei unseren Nachbarn
Gerade weil in der Schweiz durch die Volks-Souveränität und das Milizsystem Staat und Zivilgesellschaft nicht glasklar zu trennen sind, existiert weder eine Debatte noch eine politische Strategie bezüglich Zivilgesellschaft. Aus diesem Grund wurden Fachpersonen aus Frankreich und Deutschland eingeladen, die über die Verankerung des zivilgesellschaftlichen Engagements in Politik und Wirtschaft unserer Nachbarländer referierten.
Im Vorfeld der Tagung beantworteten 211 deutschsprachige und 32 französischsprachige Fachpersonen aus der Schweiz 7 Fragen über die Rolle der Zivilgesellschaft.
Soll die Zivilgesellschaft (Vereine, Stiftungen, NPO, NGO, Kirchen) mehr Aufgaben übernehmen, wenn der Staat Ausgaben kürzt?
Romandie Deutschschweiz
38,7% 52% JA
61,3% 48% NEIN
Soll die Zivilgesellschaft mehr Aufgaben übernehmen, wenn Familien und Angehörige in der Betreuung der Angehörigen überfordert sind?
Romandie Deutschschweiz
42% 68% JA
0% 7,5% Nein, Einzelne sollen mehr Verantwortung übernehmen.
58% 24,5% Nein, der Staat soll einspringen
Sollen Arbeitgeber die Arbeitszeiten flexibler gestalten, damit Arbeitnehmende Aufgaben in der Zivilgesellschaft sowie private Betreuungsaufgaben leichter übernehmen können?
Romandie Deutschschweiz
93,5 % 97% JA
6,5 % 3% NEIN
Soll der Staat der Zivilgesellschaft mehr Mitsprache geben in Fragen, die das gesellschaftliche Zusammenleben betreffen (Raumentwicklung, Betreuung daheim, Integration von Migranten usw.)?
Romandie Deutschschweiz
100 % 83% JA
0 % 17% NEIN
Soll der Staat Tätigkeiten der Zivilgesellschaft (Betreuung, Integration, Kultur) koordinieren?
Romandie Deutschschweiz
13% 21% Ja, Vereinen und Privaten fehlen oft Ressourcen und Kompetenzen
42% 41% Ja, es ist eine Wertschätzung des zivilgesellschaftlichen Engagements
45% 38% Nein, Zivilgesellschaft organisiert sich als Partnerin des Staates selbst.
Welche Massnahmen müssten ergriffen werden, um die Zivilgesellschaft in der Schweiz zu stärken?
Romandie Deutschschweiz
25% 33% Der Staat braucht klare Strategien für die Kooperation.
25% 27% Die Zivilgesellschaft kommuniziert ihren Gemeinwohlbeitrag klarer.
31% 29% Die Zivilgesellschaft wirbt für einen neuen Gesellschaftsvertrag.
19% 11% Andere: Thematisierung in der Schule, steuerliche Begünstigungen usw.
Stellen Sie beim Selbstverständnis der Zivilgesellschaft und ihrem Verhältnis zum Staat Unterschiede fest zwischen der deutschsprachigen Schweiz und der lateinischen Schweiz?
Romandie Deutschschweiz
70 % 66% JA
30 % 34% NEIN
Edith Archambault, emeritierte Wirtschafts- und Soziologie-Professorin der Pariser Sorbonne, referierte über die Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft in Frankreich. In unserem westlichen Nachbarland gibt es 12 Mal mehr Vereine als in der Schweiz, nämlich 1,3 Millionen. Hingegen gibt es in Frankreich infolge eines restriktiven Gesetzes nur 2300 Stiftungen (in der Schweiz rund 13’000). Die formelle Freiwilligenarbeit in Vereinen und Organisationen bewegt sich in Frankreich vermutlich wie in Deutschland um die 40% der erwachsenen Bevölkerung. Über die Höhe der Freiwilligenarbeit existieren wenig genaue Zahlen, über die informelle Freiwilligenarbeit überhaupt keine. Seit 2010 leisten jährlich 150’000 Jugendliche im Alter von 16-25 Jahren ein vom Staat organisiertes freiwilliges Sozialjahr, den sogenannten Service Civique. Die jungen Erwachsenen werden von einem Tutor begleitet und erhalten eine Entschädigung von 580 € im Monat (80% bezahlt der Staat, 20% die soziale Einrichtung). Jeder siebte Freiwillige möchte sich nach dem Einsatz weiterhin freiwillig engagieren. In den personenbezogenen Diensten von Bildung, Gesundheit und Sozialem wirken unterschiedlich viele Vertreter der Zivilgesellschaft:
Dienste Staat Zivilgesellschaft Markt
Bildung 76% 19% 5%
Gesundheit 65% 12% 23%
Soziales 28% 62% 10%
Total 25% 8% 67%
Die französische Sozialpolitik funktioniert oftmals im Sinn einer Private Public Partnership, der sogenannten Co-Construction, bei der sich Staat und Zivilgesellschaft gemeinsam engagieren. Seit 1998 wirkt der Staat intensiv mit 18 karitativen Verbänden zusammen, um Armut und Ausgrenzung zu bekämpfen. Der sogenannte «Haut Conseil à la Vie Associative» (Hohe Rat für das Vereinswesen) wird vom Staat bei Gesetzen mit Auswirkung auf die Organisationen der Zivilgesellschaft jeweils konsultiert. Das Modell der Ko-Konstruktion existiert im zentralistischen Frankreich auch auf der lokalen Ebene.
Konstantin Kehl, Dozent für Sozialmanagement an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW), sprach über Zivilgesellschaft und freiwilliges Engagement in Deutschland und der Schweiz. Während sich in vieler Hinsicht die Schweiz als «Sonderfall» versteht und darstellt, kommt Deutschland diese Rolle in Bezug auf das zivilgesellschaftliche Engagement zu. Dort besteht geradezu eine politische und moralische Pflicht zum Engagement. Das republikanische Denken, dass der Mensch als soziales und politisches Wesen seine Natur erst dann erfüllt, wenn es sich politisch am Gemeinwesen beteiligt, ist in Deutschland stärker entwickelt als die liberale Haltung, dass der Mensch zunächst ein aufgeklärter, eigenverantwortlicher Bürger (citoyen) ist. Die Bürgerpflicht steht tendenziell höher als das Bürgerrecht. Während die formelle Freiwilligenarbeit in der Schweiz in den letzten 10 Jahren leicht abgenommen und in Deutschland leicht zugenommen hat, interpretieren beide Länder diese Veränderung paradoxerweise mit denselben Gründen: der zunehmenden Arbeitsmarkt-Mobilität und der erhöhten Erwerbstätigkeit von Frauen. Während in der Schweiz diese Faktoren als Konkurrenz zur Freiwilligenarbeit betrachtet werden, werden sie in Deutschland als Chance für die Freiwilligenarbeit gesehen. Schliesslich ging Kehl auf die Rolle des Staates bei der Erforschung und Förderung von Freiwilligenarbeit ein. In Deutschland existieren eine staatliche Freiwilligenstrategie, ein staatliches Forschungsprogramm für Freiwilligenarbeit sowie drei staatliche Sozialjahrdienste für Jung und Alt. Kehl sieht die starke Rolle des Staates aber eher kritisch. In der Schweiz, wo die Freiwilligenforschung von individuellen Akteuren erfolgt, plädiert Kehl für ein koordiniertes interdisziplinäres Forschungsprogramm, das beispielsweise beim Nationalfonds angesiedelt ist.
Die Tagung führte zu folgenden Erkenntnissen für die Zivilgesellschaft der Schweiz:
- Unternehmen sollen die Arbeitszeiten flexibler gestalten, damit Arbeitnehmende Aufgaben in der Zivilgesellschaft, private Betreuungsaufgaben sowie Milizaufgaben leichter übernehmen können.
- Der Staat soll der Zivilgesellschaft mehr Mitsprache geben in Fragen, die das gesellschaftliche Zusammenleben betreffen (z.B. Raumentwicklung, Betreuung, Integration)
- Es braucht eine Diskussion über die Frage, ob und in welchen Bereichen der Staat Tätigkeiten der Zivilgesellschaft (Betreuung, Integration, Kultur) koordinieren soll.
- Die Zivilgesellschaft sollte ihren Beitrag zum Gemeinwohl noch klarer kommunizieren.
- Es braucht eine Diskussion über einen neuen Gesellschaftsvertrag, in welchem die Aufgaben von Staat, Zivilgesellschaft, Markt und Privatbereich sinnvoll, fair und solidarisch verteilt sowie ordnungspolitisch begründet werden.
- Ein Freiwilliges Sozialjahr sollte geschaffen werden. Dieses sollte von der Zivilgesellschaft organisiert und von Staat und Markt unterstützt werden.
- Es sollten ein nationaler sowie kantonale und kommunale Zivilgesellschaftsräte geschaffen werden. Bei der Schaffung oder Änderung von Gesetzen mit Auswirkung auf die Organisationen der Zivilgesellschaft sind diese Räte zu konsultieren.
- Die positiven Auswirkungen der zunehmenden Arbeitsmarkt-Mobilität und der erhöhten Erwerbstätigkeit von Frauen auf die Freiwilligenarbeit sind genauer zu erforschen und stärker zu fördern.
- Es sollte ein nationales interdisziplinäres Programm für Freiwilligenforschung geschaffen werden, das beispielsweise beim Nationalfonds angesiedelt ist.