28. Juli 2023
Geschichten der Heimat: Neue Studie über «nationale Narrative» und wie politische Akteure sie nutzen
Wenn Schweizer über die Schweiz sprechen, benutzen sie oftmals ähnliche Bilder: Sie charakterisieren die Schweiz als «freiheitsliebendes, wehrhaftes Land», benennen die Schweiz als «Willensnation», andere heben vielleicht auch das «politische Erfolgsmodell», den «wirtschaftlichem Wohlstand» oder die «humanitäre Tradition» der Schweiz hervor … – Solche Referenzen werden «Narrative» genannt.
Narrative sind geteilte Erzählungen, also eine Art kollektive Vorstellungen in den Köpfen aller. Sie werden stets repetiert und dadurch indirekt immer wieder bestätigt. Narrative über Nationalstaaten wie die Schweiz beziehen sich dabei oft auch auf tradierte Mythen oder historische Ereignisse (zB Rütli, Wilhelm Tell), aus denen sich die Identität eines Landes in einer plausiblen Form ableiten und begründen lässt. Wie ein nationales Narrativ interpretiert und weitererzählt wird, hat also hohe Wirkungsmacht für das Selbstverständnis eines Landes und für dessen Identität.
Narrative sind historisch gewachsen, tief im Bewusstsein der Bevölkerung verankert und dadurch nur schwierig veränderbar. Sie lassen sich jedoch im politischen Diskurs geschickt nutzen – auch dafür, wie die Zukunft erzählt und entworfen wird. Es sind oftmals Narrative, die den Menschen die Politik emotional näherbringen, viel eher als reine Daten, Fakten oder Argumentationslisten. Darum ist es umso wichtiger zu wissen, was solche Narrative kennzeichnet, welche Wirkung sie haben und was ihren Erfolg beeinflusst. Trotz ihres Stellenwerts haben die eigentlich sehr wirkungsmächtigen nationalen Narrative bislang wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren.
Neue Studie
Dies war im Jahr 2021 der Anlass, dass Pro Futuris, der Think und Do Tank der SGG, die Studie «Geschichten der Heimat» in Auftrag gab und dieses Projekt in der Folgezeit inhaltlich eng begleitete. Konkret untersucht wurde die Frage, welche politischen Akteure sich welcher nationaler Narrative bedienen und wie sich dies im Lauf der Jahrzehnte verändert hat.
In einem ersten Teil der Studie hat die Forschungsstelle Sotomo rund 14’000 Dokumente von politischen Akteuren (Reden, Medienmitteilungen, Positionspapiere oder auch Texte im Bundesbüchlein) in einem Korpus zusammengestellt und mit Hilfe computergestützter Verfahren quantitativ analysiert. Zu den untersuchten Akteursgruppen zählten die rechten Parteien, die Zentrumsparteien, die linken Parteien, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften / NGO sowie auch überparteiliche Organisationen wie der Bundesrat. Die Dokumente der Akteure wurden im Hinblick auf das Vorkommen bestimmter Worte/Wortgruppen untersucht, die sich sechs definierten, nationalen Narrativen (in Anlehnung an Di Giulio und Defila, 2022) zuordnen liessen. In einem zweiten Schritt validierten Politologie-Studierende an der Universität Zürich unter der Betreuung von Prof. Dr. Karsten Donnay die bestehenden Ergebnisse (es ergab sich eine Übereinstimmung von 70 bis 80 Prozent) indem sie eine qualitative Analyse von 2000 Texten vornahmen. Die von ihnen nun vorliegende Studie erlaubt einen Einblick in die Nutzung, die Veränderung und die (konnotative) Besetzung dominanter nationaler Narrative in der Schweiz.
Rechte Parteien nutzen Narrative am stärksten
Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass rechte Parteien sich in ihrer Kommunikation am stärksten nationaler Narrative bedienen. Andere Parteien haben in den letzten Jahren zwar aufgeholt, jedoch vermögen sie das Bild der Schweiz nicht im gleichen Ausmass zu dominieren. Das Narrativ der «freiheitsliebenden, wehrhaften Schweiz» präsentiert sich im Vergleich mit anderen Narrativen als Spitzenreiterin. Insbesondere zeigt sich ab den 1990er Jahren hier ein sehr deutlicher Anstieg dieser Narrativnutzung bei rechten Parteien. Eine nähere Analyse konnte zeigen, dass dieses Narrativ mit der Migrationsthematik inhaltlich oft verknüpft wird.
Bei den linken Parteien ist das Narrativ «Humanität & Solidarität» relativ am bedeutendsten. Eine vertiefte Analyse der Bundesratsreden hat ausserdem ergeben, dass dieses Narrativ ebenfalls bei Reden am 1. August und an Neujahr oft verwendet wird. Die Bundesrät:innen nutzen die Narrative in Reden (bewusst oder unbewusst) entsprechend ihrer Parteizugehörigkeit. Obwohl sie Teil eines Kollegiums sind, lassen sie ihre politische Färbung in ihren Reden also durchaus durchblicken.
Andreas Müller, Programmleiter bei Pro Futuris, ist mit den Ergebnissen zufrieden: «Die Studie zeigt auf, welche politischen Akteur:innen wie welche dominanten nationalen Narrative benutzen. Sie verdeutlicht, wie relevant solche Narrative für die politische Kommunikation sind.» Obwohl nationale Narrative historische Darstellungen der kollektiven Vergangenheit symbolisieren, können sie gleichwohl starken Einfluss auf mögliche Zukunftsentwürfe haben.
Die sechs Narrative:
- «Die Schweiz ist ein freiheitsliebendes, wehrhaftes Land, das Bedrohungen von innen und aussen erfährt»
- «Unabhängigkeit, Souveränität und Stabilität sind Garanten des wirtschaftlichen Wohlstands der Schweiz»
- «Die Schweiz ist ein Land mit einer starken humanitären Tradition, in dem für alle gesorgt wird»
- «Direkte Demokratie, Föderalismus und Neutralität sind das politische Erfolgsmodell der Schweiz»
- «Die Schweiz ist eine multikulturelle Willensnation»
- «Die Schweizer:innen sind ein Alpenvolk»