22. April 2022

«Service Citoyen» brächte viele und vieles zusammen

Lukas Niederberger: Ist die Covid-Krise eine läuternde Katharsis, die unterschwellige gesellschaftliche Spannungen endlich an die Oberfläche gespült hat? Oder sind die Gräben, die seit einem Jahr bis in Familien und Arbeitsteams hineinwirken, tatsächlich durch das Virus begründet?

Michael Hermann: Alle Bruchlinien, die mit Covid aufgebrochen sind, waren zuvor latent schon da. Das Aussergewöhnliche ist, wie sehr diese auf einmal in unseren Alltag eingebrochen sind. Die Pandemie und die Massnahmen dagegen betreffen alle ganz direkt– viel unmittelbarer als sonstige politische Streitfragen. An sich neigen in der Schweiz viele dazu, politisch heikles Terrain zu umschiffen, wenn Andersdenkende in der Nähe sind. Das war nun auf einmal nicht mehr möglich. Das gilt besonders für den Umgang mit der Impfung. Impfskeptische Personen gab es schon immer, nur führte dies bis zur Pandemie kaum je zu Konflikten und zum Familienstreit. Das heisst, es sind die bereits bestehenden gesellschaftlichen Gräben, die sichtbarer, alltäglicher und relevanter geworden sind.

In Deinem Buch von 2016 «Was die Schweiz zusammenhält» vertrittst Du die These, dass die Gräben in der Schweiz nicht dramatisch seien, weil sie nicht zwischen zwei klaren Lagern, sondern unterschiedlichen Polen verlaufen. Zwischen Generationen, Geschlechtern, Sprachregionen, Bildungsschichten, Konfessionen, Einkommensklassen, Stadt-Land sowie zwischen politischen Lagern. Gibt es Deiner Meinung nach einen bestimmten Grenzwert, ab wann wir uns ernsthaft Sorgen machen müssen wegen sinkender Solidarität, abnehmendem Zusammenhalt und wachsender Polarisierung?

Bereits damals habe ich konstatiert, dass dieses besondere Gewebe, das die Schweiz zusammenhält, an Bindekraft einbüsst. Viele Bezugspunkte, welche die mehrschichtige schweizerische Identität einst ausgemacht haben, sind schwächer geworden. So spielt die Konfession beispielsweise kaum noch eine Rolle. Auch die einst so wichtigen kantonalen Identitäten haben an Bedeutung verloren. Bei den heute relevanten Gegensätzen stehen sich oftmals dieselben Gruppen gegenüber: Stadt gegen Land, Progressive gegen Konservative, Bildungsnahe gegen Bildungsferne, Wissenschaftsfreundliche gegen Wissenschaftsskeptische. Dass es kaum noch wechselnde Konstellationen und Allianzen gibt, darüber müssen wir uns Sorgen machen. Der grosse Vorteil gegenüber den USA ist jedoch, dass wenigstens die Parteienlandschaft vielgestaltiger ist und sich nicht zwei verfeindete Grossparteien gegenüberstehen.

Aggressionen auf beiden Seiten haben wir in letzter Zeit bei Abstimmungen erlebt, bei denen urbane und ländliche Regionen sehr unterschiedlich abgestimmt haben. Du bist in Huttwil aufgewachsen und lebst in Zürich, kennst als beide Verhalten gut. Haben wir Schweizer:innen Mühe im Umgang mit unterschiedlichen Meinungen und mit einer Kultur des konstruktiv-kontroversen Dialogs, weil wir im kleinräumigen Land einerseits sehr harmoniebedürftig sind und andererseits Spannungen lieber schweigend aussitzen als verbalisieren? Oder warum können nun auf einmal so viele nicht mehr miteinander reden?

Dass Grossmauligkeit keine typische schweizerische Eigenschaft ist, hat viel mit unserer Mittelstandsgesellschaft zu tun. Weder proletarisches Gepolter noch Oberschichtsarroganz werden hier positiv bewertet. Die durch Corona akzentuierten Konflikte haben dieses Harmoniebedürfnis jedoch herausgefordert. Das hat durchaus auch zu offenem Streit geführt. Viele haben es jedoch vorgezogen, das Thema so gut es geht auszuschweigen. Mein Eindruck ist, dass sich vor allem mit der zweiten Covid-Abstimmung Ende November 2021 vieles beruhigt hat. Die Eindeutigkeit des Resultats hat der Gegnerschaft die Energie entzogen. Mittlerweile eint uns zusätzlich die Sehnsucht nach Normalität.

Verschiedene Interessengruppen stellen sich die Normalität nach Corona sehr unterschiedlich vor. Dein Institut Sotomo hat in letzter Zeit mehrere Studien publiziert, die sich mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt befassen. Die sogenannte Solidaritätsstudie im Auftrag der Glückskette stellt Ende 2021 eine Abnahme der Solidarität während der Covid-Pandemie fest. Das überraschte an sich wenig, dies geschah bereits vor 14 Jahren bei der Finanzkrise. Liegt es daran, dass zu Beginn von Krisen das gemeinsame Ziel im Zentrum steht und mit der Zeit die eigenen oder Gruppeninteressen wieder stärker in den Vordergrund rücken, obwohl sich alle nach Normalität sehnen?

Absolut. Eine neue aufziehende Gefahr oder Herausforderung, direkt sichtbares menschliches Leid in unmittelbarer Nähe – das lässt für einen Moment die Gegensätze schmelzen und ein besonderes Gemeinschaftsgefühl entstehen. Doch solche Momente sind flüchtig. Ist der erste Schock verdaut, machen sich umso stärker die durch die Krise akzentuierten Interessengegensätze und Einschätzungsunterschiede bemerkbar.

Die Solidaritätsstudie stellt fest, dass Solidarität vor allem im familiären und nachbarschaftlichen Umfeld funktioniert, weil dort die Hilfe eher sichtbar ist und weil eher Aussicht auf Gegenhilfe besteht. Neun von zehn Personen haben sich immer schon im lokalen Umfeld engagiert und nicht auf kantonaler oder nationaler Ebene. Ist die nachbarschaftliche Solidarität gegenüber der staatlichen Solidarität tatsächlich gewachsen? Und falls dem so wäre: Kann es sein, dass immer mehr Menschen subjektiv finden, dass die solidarische Hilfe von Bund und Kantonen in den letzten Jahren abgenommen hat und sie sich darum mehr in den Nahraum zurückziehen?

Ich denke, dass bei der Einschätzung von Solidarität vor allem auf einer emotionalen Ebene geantwortet wird. Das laute Geschrei, die Streitereien und die Unversöhnlichkeit in den politischen Auseinandersetzungen werden als Ausdruck von mangelnder gesellschaftlicher Solidarität gesehen. Umgekehrt haben viele auf privater Ebene neben allen Konflikten auch eine besondere Solidarität und Hilfsbereitschaft erlebt. Das führt zu einer positiven Bewertung. Hier zeigt sich allerdings auch eine gewisse Lebenslüge. Schliesslich sind es kaum die Nachbarn, die bei Arbeitslosigkeit, im Alter oder im Krankheitsfall einspringen. Weil staatliche Hilfe offenbar von vielen als selbstverständlich angesehen wird, wird sie nicht als Solidarität wahrgenommen. Dennoch hat gerade in der Pandemie die Erfahrung mit den staatlichen Auffangnetzen direkt dazu beigetragen, dass die Erwartungen an den Staat gestiegen sind.

Eure Solidaritätsstudie zeigt auch, dass junge und ältere Menschen sich selbst für solidarischer halten, als es die jeweils anderen Generationen tun. Nur 3 % der Älteren empfinden ihr eigenes Verhalten für unsolidarisch, während 17 % der Jungen die Älteren für unsolidarisch halten. Klimaschutz, Altersvorsorge und Gesundheitskosten stehen im Sorgenbarometer von jungen Menschen ganz oben. Gleichzeitig vertreten Ältere das Narrativ, dass der heutige Wohlstand Frucht ihres Fleisses und ihrer Bescheidenheit sei. Wie können wir die Generationensolidarität langfristig erhalten, beziehungsweise stärken?

Tatsächlich hat mit der Babyboomer-Generation nun erstmals eine durch Selbstverwirklichung und Hedonismus geprägte Alterskohorte das Rentenalter erreicht. Es ist eine Generation, die sich selbst vom Druck und den Ansprüchen der Elterngeneration freigestrampelt hat. Viele sehen sich hier als fortschrittlich und haben den Eindruck es ganz allein geschafft zu haben.

Viele Menschen ziehen in urbane Regionen, gewisse ländliche Kantone mussten deshalb bereits Nationalratssitze abgeben. Der Ständerat scheint von allen Veränderungen unberührt zu sein und dank dem Ständemehr zählt bei einer Abstimmung eine Stimme aus Appenzell 40-mal mehr als eine Stimme aus Zürich. An diesem Relikt aus dem Sonderbundskrieg wird zunehmend gerüttelt. Und auch das Ausländer:innen-Stimmrecht oder das Stimmrechtsalter 16 werden immer stärker thematisiert. Welche demokratischen Reformen braucht die Schweiz heute und morgen aus der Perspektive des Politgeografen?

Aus politgeographischer Sicht gehört neben dem Stimmrecht für ausländische Personen auf kommunaler Stufe vor allem der Bürger:innen-Dienst dazu. Beides würde unmittelbar und direkt im Alltag zur Integration betragen. Letzteres wäre wohl die einzige praktikable Möglichkeit, in unserer Welt der gleichförmigen in sich abgeschlossenen Filterblasen wieder mehr Austausch unter Nicht-Gleichgesinnten zu schaffen.

Du trägst hier Wasser in den Rhein. Die Idee vom Bürger:innen-Dienst bzw. Service Citoyen wurde von den zwei SGG-Mitarbeitenden Andreas Müller und Noémie Roten geboren, als sie noch bei «Avenir Suisse» wirkten. Für die Schweizer Gesellschaft wäre es zweifellos ein Gewinn, wenn Frauen und Männer, Schweizer:innen und Niedergelassene einen Dienst leisten würden, der sie mit Menschen in anderen Sprachregionen, mit anderen Generationen sowie aus anderen Siedlungsformen und sozialen Schichten in Kontakt bringen würde. Gerade dem sogenannten Stadt-Land-Graben könnte der Service Citoyen etwas entgegenwirken. Ländliche Bewohnende wie Städter:innen haben das Gefühl, sie würden von der jeweils anderen Seite überstimmt. Was stimmt?

Beides! In vielen Gesellschaftsbereichen sind es tatsächlich die urbanen Zentren, die den Takt vorgeben. Hier werden Trends wie veganes Essen oder Diversity gesetzt. Hier gibt es besonders viele Start-ups und Schaltzentralen etablierter Unternehmen. Und nicht zu vernachlässigen: Besonders viele Medien und sonstige Meinungsmachende leben in einem urbanen Umfeld. Zugleich sind es die rot-grün geprägten Kernstädte, die in der Schweizer Politik oft überstimmt werden. Gerade auch aus Sicht des Städters, der auf dem Land aufwuchs, finde ich es persönlich wichtig, mir immer bewusst zu sein, dass wir Grossstädter in vielen Bereichen dominanter sind als es der verengte Blick auf die Abstimmungsergebnisse vermuten liesse.

Sowohl Service Citoyen als auch ein reger Austausch von Menschen allen Alters in anderen Regionen würde einem Stadt-Land-Agglo-Graben entgegenwirken. Und sie würden dazu auch die Generationensolidarität stärken. Die Jugend wirft den 60+ vor, den Nachkommen irreparable Naturschäden zu hinterlassen. Hinzu kommt ein Scherbenhaufen bei AHV und Pensionskassen sowie eine zusätzliche Schuldenlast durch die Covid-Massnahmen. Ist die Generationensolidarität nicht stärker bedroht als das Verhältnis zwischen Stadt und Land?

Generationen-Solidarität, Generationen-Gerechtigkeit plus ganz schlicht die Perspektiven der nachkommenden Generationen – das sind tatsächlich die ganz grossen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Im Gegensatz zum Spannungsfeld Stadt-Land bestehen zwischen den Generationen jedoch weit weniger direkte politische Differenzen. Anders als in der Zeit um 1968 gibt es heute, trotz Klimastreiks, keinen allzu starken Generationengraben. Sich für eine zukunftstaugliche Gesellschaft einzusetzen, ist keine Frage des Alters.

Michael Hermann, im Vorfeld unseres Gesprächs war ich mir bewusst, dass ich im Austausch mit Dir neue und interessante Einsichten gewinnen würde. Dass Du auch noch ein mehrfaches Plädoyer für den «Service Citoyen» halten würdest, hatte ich allerdings nicht auf Radar. Umso mehr freue ich mich darüber und danke Dir für das Gespräch. An dieser Stelle verrate ich gerne, dass das Institut Sotomo im Herbst 2021 den Auftrag erhalten hat, die dominierenden Schweiz-Narrative der letzten Jahrzehnte zu analysieren. Mehr darüber verraten wir im nächsten Jahresbericht.