13. Juli 2016

Deutscher Freiwilligensurvey 2014

Gezielte Freiwilligen-Förderung im grossen Kanton Nachdem im Februar der «Freiwilligen-Monitor Schweiz 2016» erschienen ist, ist nun online auch der «Deutsche Freiwilligensurvey 2014» abrufbar. Ein Vergleich lohnt sich. Im Unterschied zur Schweiz wird Freiwilligenarbeit im nördlichen Nachbarland seit Jahren bewusst staatlich gefördert. Der Aufwand schlägt sich entsprechend positiv in konkreten Zahlen nieder.

Gezielte Freiwilligen-Förderung im grossen Kanton
Nachdem im Februar der «Freiwilligen-Monitor Schweiz 2016» erschienen ist, ist nun online auch der «Deutsche Freiwilligensurvey 2014» abrufbar. Ein Vergleich lohnt sich. Im Unterschied zur Schweiz wird Freiwilligenarbeit im nördlichen Nachbarland seit Jahren bewusst staatlich gefördert. Der Aufwand schlägt sich entsprechend positiv in konkreten Zahlen nieder.
Als die SGG im Februar 2016 den jüngsten Schweizer Freiwilligen-Monitor mit den Befragungen vom Herbst 2014 präsentierte, schnappten die Medien vor allem das Faktum auf, dass die formelle Freiwilligenarbeit in Vereinen und Organisationen seit 20 Jahren konstant abgenommen hat. Der Rückgang ist zwar nicht alarmierend hoch ist, aber die Schweiz muss dennoch effektive Massnahmen ergreifen, um mit Freiwilligenarbeit die gesellschaftlich notwendigen Dienste langfristig garantieren zu können. Die Zahl der formell freiwillig Engagierten, die in Organisationen und Vereinen ausserhalb von Familie und Haushalt wirken und über 14 Jahre alt sind, lassen sich in Deutschland und in der Schweiz vergleichen. In den Jahren 2009 und 2014 wurden die Zahlen gleichzeitig erhoben. Insgesamt steht die Schweiz zum jetzigen Zeitpunkt bezüglich der Anzahl [nbsp]Freiwilligen nicht viel schlechter da als ihr nördlicher Nachbar. Beunruhigend ist hingegen das Faktum, dass die Anzahl Freiwilliger in der Schweiz in den letzten 10 Jahren gesunken ist, während sie in Deutschland deutlich gestiegen ist. Vor allem bei der jüngeren Generation hat die Bereitschaft zum freiwilligen Engagement in der Schweiz deutlich nachgelassen. Nicht so in Deutschland. Dort hat das freiwillige Engagement der 14-29-Jährigen in den letzten 10 Jahren ebenfalls stark zugenommen.

Abb. 1

Diese Tendenz wird sich ohne eine massive Veränderung in den kommenden Jahren kaum ändern. Dieser konträre Trend in den zwei Nachbarländern ist auf den ersten Blick unerklärbar. Denn die demografischen, sozialen und kulturellen Faktoren, die das freiwillige Engagement herausfordern, sind in Deutschland und in der Schweiz dieselben: Zunahme an betagten Personen, Zunahme der Erwerbsarbeit von Frauen, Abwanderung in die Städte, Fixierung auf Entlohnung, steigende Individualisierung, Trennung von Wohn- und Arbeitsort, höhere Komplexität und Professionalisierung der Freiwilligentätigkeiten, höhere berufliche Präsenz und Anforderung sowie ein immer stärker ausgebautes Sozialwesen.

Gezielte Förderung in Deutschland
Bezüglich Freiwilligenarbeit liegt der Unterschied zwischen der Schweiz und Deutschland in der gezielten Förderung des zivilgesellschaftlichen und freiwilligen Engagements durch den Staat. In der Schweiz kann man im Freiwilligenbereich Spenden von den Steuern abziehen. Und der Staat fördert durch AHV-Gutschriften und Vergütungen die private Betreuung der eigenen Kinder und der älteren Angehörigen. Aber die Freiwilligenarbeit selbst erhält in der Schweiz keine staatliche und politische Unterstützung. Die 30-köpfige «Parlamentarische Kommission Freiwilligkeit» existiert lediglich auf dem Papier. In der Schweizer Politik werden die Bereiche freiwilliges und zivilgesellschaftliches Engagement – wie die Wiener sagen – nicht einmal ignoriert. Der Deutsche Freiwilligensurvey nennt mehrere staatliche Massnahmen, die nördlich des Rheins in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer wachsenden Bereitschaft zur Freiwilligenarbeit geführt haben:

  • Freiwilligenforschung wird vom deutschen Staat aktiv betrieben. 1999 wurde vom Bundestag die Enquête-Kommission «Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements» gegründet, welche der Regierung und dem Parlament einen Bericht über den landesweiten Stand des Engagements erstellte. Heute beschäftigt sich vor allem ein Ausschuss des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (FSFJ) mit dem bürgerschaftlichen Engagement.
  • Der Deutsche Freiwilligensurvey wird seit 1999 alle fünf Jahre vom Bundesministerium FSFJ in Auftrag gegeben.
  • Alle politischen Parteien haben die Unterstützung der Freiwilligenarbeit fest in ihr Programm integriert.
  • Der deutsche Staat bietet mehrere Freiwilligendienste an: das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ, seit 1964), das Freiwillige Ökologische Jahr (FÖJ, seit 1993) und als Ersatz für den früheren Zivildienst den Bundesfreiwilligendienst (seit 2011). 9,2% der unter 30-Jährigen leisten einen solchen Dienst (10% Frauen und 8,5% Männer). Und wer jemals einen Freiwilligendienst absolviert hat, engagiert sich später nachweislich überproportional in der Freiwilligenarbeit.
  • Die systematische Bildungsexpansion zeigt Früchte. Personen mit höherer Bildung sind in allen Ländern stärker freiwillig tätig.
  • Es wurden viele neue Vereine und Organisationen gegründet, u.a. zahlreiche Fördervereine privater Bildungs- und Betreuungs-Institutionen.

Weniger häufig und weniger lang
Während die Anzahl freiwillig Engagierter in Deutschland tendenziell zunimmt und in der Schweiz abnimmt, verhalten sich die Freiwilligen in den beiden Ländern ähnlich in Bezug auf die Häufigkeit und das Ausmass der Freiwilligenarbeit. Hier die Zahlen für Deutschland:

Abb. 2

Allgemein haben die häufigen Freiwilligeneinsätze abgenommen und die weniger häufigen Einsätze zugenommen. Aufgrund der beruflichen und familiären Anforderungen sowie des individualistischen Bedürfnisses nach autonomer Zeitgestaltung ist diese Tendenz wenig überraschend. Die 30-49-Jährigen engagieren sich seltener als andere Altersgruppen mehrmals wöchentlich. In dieser Altersgruppe ist die berufliche und familiäre Beanspruchung zweifellos am höchsten. Die unterschiedliche Häufigkeit ist aber auch systemimmanent: Im Sport wirken 28,3% mehr als einmal wöchentlich freiwillig, im Bereich Schule und Kindergarten sind es lediglich 13,9%. Auch das zeitliche Ausmass der Freiwilligeneinsätze hat sich in den letzten Jahren in beiden Ländern ähnlich entwickelt. Hier die Zahlen für Deutschland:

Abb. 3

Die wöchentliche Einsatzdauer in der formellen Freiwilligenarbeit ist vor allem bei den längeren Einsätzen von Männern (von 27,3% auf 21%) und bei Personen bis 29 Jahren (27,0% auf 18,4%) stark gesunken, während sie bei Personen über 50 Jahren gestiegen ist. Die sinkende Einsatzdauer der Freiwilligeneinsätze von Berufstätigen ist an sich nicht dramatisch. Wichtig ist jedoch, dass Organisationen, die mit Freiwilligen wirken, diese Entwicklung erkennen und mit kreativen Lösungen darauf reagieren.

Blinder Fleck Migrationshintergrund
Das freiwillige Engagement von Personen mit Migrations- bzw. Mobilitätshintergrund wird sowohl im Deutschen Freiwilligensurvey als auch im Schweizer Freiwilligenmonitor vertieft analysiert. In beiden Ländern wurde festgestellt, dass die formelle Freiwilligenarbeit (FA) in Vereinen und Organisationen eng mit dem politischen Status der Bewohnerinnen und Bewohner zusammenhängt. Freilich ist es bei dieser Korrelation nicht leicht zu sagen, ob das Huhn oder das Ei zuerst war: Lassen sich Engagierte eher einbürgern oder führt Einbürgerung zu mehr Engagement? Bezüglich Vereinsaktivität und Zeitdauer der formellen Freiwilligenarbeit sind die Unterschiede zwischen In- und Ausländern, Bürgerinnen und Nicht-Bürgern weniger eindeutig. Im Sport sind Personen mit Migrationshintergrund ebenso engagiert wie Einheimische, in den Bereichen Schule, Kindergarten und Religion sind sie sogar häufiger freiwillig tätig als die im Inland geborenen mit Bürgerrecht.

Abb. 4

Unterschiedliche Interpretationen
Interessant ist, dass die Verfasser des Deutschen Freiwilligensurveys und des Schweizer Freiwilligenmonitors manche Entwicklungen in der Freiwilligenforschung konträr interpretieren.
Erstens betrachtet der Survey die wachsende Mobilität als einen wichtigen Faktor, der die Freiwilligenarbeit fördert. Im Schweizer Monitor wird die Mobilität als Grund für die Abnahme von Freiwilligenarbeit betrachtet. Wie kommt das? Und wer hat Recht? Die Forscher in der Schweiz argumentieren, dass durch das tägliche Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort der soziale Bezug verloren geht und die Leute sich dadurch weniger engagieren. Deutsche Soziologen argumentieren, dass durch die Mobilität immer weniger Menschen private CareArbeit für Angehörige (Enkel, Grosseltern) leisten können (oder müssen) und dafür mehr Kapazität haben für Freiwilligenarbeit zu Gunsten von Personen ausserhalb ihrer Familie.?
Zweitens wird in der Schweiz die höhere Zahl von erwerbstätigen Frauen als Grund für sinkende Freiwilligenarbeit betrachtet. Der Deutsche Freiwilligensurvey sieht in der Berufstätigkeit der Frauen vielmehr eine Zunahme an Interaktion und ein Eintrittstor in Berufsverbände und Beiräte.
Und drittens werden in der Schweiz Personen mit Migrationshintergrund als eine Gruppe betrachtet, die sich wenig freiwillig engagiert. In Deutschland fokussiert man sich bei diesem wachsenden Personenkreis primär auf sein hohes Potenzial für die Freiwilligenarbeit, speziell für den Bereich Betreuung und Pflege. Da Gedanken Energie beinhalten, wäre es vielleicht ganz hilfreich, wenn die breite Öffentlichkeit in der Mobilität und in der Erwerbsarbeit sowie in den Rentnern und in den Personen mit Migrationshintergrund primär eine Chance und weniger eine Belastung für die Freiwilligenarbeit sehen würde.

Spiegel der (Un-)Gleichstellung
Der Deutsche Freiwilligensurvey legt im Schlussfazit den Fokus auf die Genderfrage. Gerade im Bereich der unbezahlten Arbeit im Privatbereich und in der ausserfamiliären Freiwilligenarbeit zeigt die Freiwilligenforschung grosse Unterschiede zwischen den sozialen Geschlechtern auf. Von den 33,9% der Wohnbevölkerung über 14 Jahren, die noch nie in einer Organisation freiwillig tätig waren, sind 36,1% Frauen und 31,5% Männer. Nach den Gründen befragt, geben 38,7% der Frauen familiäre Gründe an – aber nur 24,1% Männer. Frauen sind in der formellen Freiwilligenarbeit in beiden Ländern weniger stark engagiert, vor allem in den gewählten Ämtern. Während 21,7% der freiwillig tätigen Frauen ein gewähltes Amt innehaben, sind es bei den Männern 33%. Frauen wirken stärker in der informellen Freiwilligenarbeit, die weitgehend in der Care-Arbeit besteht und weniger Prestige besitzt als Ämter in Organisationen. Was tun? Man(n) ist geneigt, laut darüber nachzudenken, eine Frauenquote nicht nur für Verwaltungsräte in Unternehmen, sondern auch für Sportvereine, Kulturzentren, Stiftungsräte, Umweltverbände und Pfarreiräte zu fordern.

Volunteering online
Die immer differenzierteren Befragungen und Resultate der Freiwilligenforschung ermöglichen auch gezieltere Fördermassnamen im Bereich der Freiwilligenarbeit. Während im jüngsten Schweizer Freiwilligenmonitor speziell das freiwillige Engagement von Jugendlichen, Personen mit Migrationshintergrund sowie die Online-Freiwilligkeit untersucht wurden und erstmals Befragungen online erfolgten, bestehen die neuen Akzente des jüngsten Deutschen Freiwilligensurveys in der Befragung von Festnetz- und Mobilnetz-Kunden sowie in Befragungen auf Russisch, Polnisch, Türkisch, Arabisch und Englisch. Der typische Online-Freiwillige ist jung, urban, männlich und religiös ungebunden.

Abb. 5

In Bezug auf die interaktiv-gestalterischen Nutzung des Internet in der Freiwilligenarbeit (z.B. Facebook-Gruppe moderieren, Vereins-Webseite betreuen, Blogs verfassen, Expertisen anbieten usw.) hat die Schweiz die Nase noch leicht vorn. Das mag vielleicht daran liegen, dass in der Schweiz wegen des höheren Wohlstands verhältnismässig mehr Personen über die nötige IT verfügen. Interessant und erfreulich ist allerdings, dass in Deutschland bezüglich der Online-Freiwilligkeit die Kluft zwischen den Geschlechtern nicht so gross ist wie in der Schweiz.

Basis für gezielte Massnahmen
Die Freiwilligenforschung beschreibt den Status quo und will weder Zukunftsspekulationen bezüglich der künftigen Freiwilligen betreiben noch Forderungen an den Staat, den Markt oder die Zivilgesellschaft stellen. Der geneigte Leser des deutschen Surveys und die aufmerksame Leserin des Schweizer Monitors erkennen im reichen statistischen Zahlenmaterial unschwer das immense Potenzial an möglichen Massnahmen zur Förderung der Freiwilligenarbeit diesseits und jenseits des Rheins. Von den Personen, die sich noch nie freiwillig engagiert haben, sind 11,6% sicher und 47,2% vielleicht bereit, ein Engagement anzunehmen. Von den 14-29-Jährigen wollen sich sogar 15,1% sicher und 66,7% vielleicht freiwillig engagieren. Die Schweiz könnte und sollte sich zweifellos vom staatlichen Engagement in Deutschland inspirieren lassen. Aber nicht nur der Bund, die Kantone und Gemeinden besitzen schlummerndes Potenzial zur Freiwilligenförderung, sondern auch die grossen Unternehmen und lokalen KMUs, die Schulen, die Medien und die Eltern – und selbstverständlich auch die Verbände, Vereine und Organisationen, die mit Freiwilligen die Gesellschaft gestalten wollen. Kurz: Alle Akteure der Gesellschaft sind herausgefordert, wenn die Freiwilligenarbeit in der Schweiz einen Aufwärtstrend erleben soll.
Lukas Niederberger